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Inklusion oder Tod

Jerzy Montag, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, ist ein Befürworter der Sterbehilfe. Er schränkt ein: sofern die Entscheidung für den Tod »autonom« getroffen wird (wie auch immer man das macht). Und dann ist derselbe Abgeordnete – neben Christian Ströbele – ein Gegner des Inzestverbots. Klar: Die sexuelle Befreiung, das Recht auf Abtreibung und schließlich das Recht auf Sterbehilfe bilden einen nimmersatten Dreiklang. Jeder dieser drei Punkte wird im Allgemeinen aber nur für sich diskutiert. Die Zusammenschau fällt aus, während der schier unüberbietbare Vorteil gerade in der Kombination liegt, indem etwa Nr. 2 und Nr. 3 dabei helfen, die peinlichen Folgen von Nr. 1 zu beseitigen. Nur weil es Nr. 2 und Nr. 3 gibt, kann man Nr. 1 immer hemmungsloser vorantreiben. Mit Nr. 3 kann man darüber hinaus die demographischen Folgen von Nr. 2 beantworten, obwohl Nr. 3 in gewisser Weise noch schlimmer ist als Nr. 2 …

Wir erinnern uns an das Geschwisterpaar aus Zwenkau bei Leipzig, das vier gemeinsame Kinder gezeugt hat und für seine verbotene Liebe von der Wochenzeitung Die Zeit im Jahre 2004 überaus einfühlsam und verständnisvoll porträtiert wurde. Zwei der vier Kinder sind mehrfach behindert und waren damals in ihrer Entwicklung deutlich zurückgeblieben. Aber das macht nichts, denn für Behinderte gibt es die von den Vereinten Nationen geforderte »Inklusion«. Falls sie möchten, haben sie ein Recht darauf, gut aufgehoben zu sein. Falls sie das nicht möchten, haben sie die Möglichkeit, Sterbehilfe zu beanspruchen. Die wird in Deutschland bereits straffrei praktiziert; Euthanasie ist jetzt freiwillig. Der behinderte Nachwuchs kann sich früher oder später (in Holland ab 16 Jahren) zwischen den beiden Möglichkeiten »autonom« entscheiden.

Die radikale Liberalisierung schafft sich ihre künstlichen Probleme selbst und steht der künstlichen Lösung ihrer künstlichen Probleme natürlicherweise nicht im Wege. Sich unter diesen Bedingungen um das Kindeswohl zu sorgen, hieße, Geschwisterliebe zu diskriminieren, wie ja auch die Kritik am Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ohne Rücksicht auf die betroffenen Kinder unter »Homophobie« fällt: »Man munitioniert die Verteilungskämpfe rassistisch und kämpft zugleich gegen den Rassismus; ungefähr so, wie man die Emanzipationsfragen sexualisiert und gegen den Sexismus kämpft; ungefähr so, wie man die Patienten hospitalisiert und gegen den Hospitalismus kämpft, indem man die Patienten einfach umbringt.« (Wir sollen sterben wollen, S. 71)

Wem nützt das eigentlich? Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 6

Das Entsetzen von Melanie Mühl (»Dunkler und noch dunkler«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.1.2013, S. 27) über den Tod der taubblinden belgischen Zwillinge teile ich. Die Autorin verweist auf einen deutschen Patienten mit ererbter Taubblindheit, der seine Verzweiflung überwunden und den Lebenswillen wiedergefunden hat. Ja, man kann nicht oft genug betonen, dass der Todeswunsch nichts Festes und nichts Unveränderliches ist. Einem Menschen mit Todeswunsch »das Recht auf Sterben« einzuräumen, wie das in Belgien heißt, – das ist die bösartigste und brutalste Falle, die man einem Menschen überhaupt stellen kann. Als Toter kann er sich nicht einmal beschweren. Sterbehilfe ist ungefährlich – für die anderen.

Als ich 1983/84 in der Querschnittabteilung der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg meinen Zivildienst geleistet habe, konnte ich immer wieder die seelischen Prozesse von querschnittgelähmten Unfallopfern beobachten. Am Anfang wechseln sich Todeswunsch und Lebenswille bei dramatischen Ausschlägen in rascher Folge ab. Dann, im Laufe der Zeit, wird die Kurve flacher. Optimismus und Lebenswille stabilisieren sich gleichzeitig mit den Therapieerfolgen und mit der zunehmend wiedererlangten Selbständigkeit. Der Todeswunsch verliert sich früher oder später – fast immer. So war das offenbar auch bei dem deutschen Taubblinden, den Melanie Mühl anführt. Wäre dagegen der Todeswunsch ein verlässliches Kriterium für Suizidhilfe, müssten sich praktisch alle querschnittgelähmten Unfallopfer umbringen dürfen. Damit sie es möglichst nicht tun, sollte man ihnen dabei nicht helfen.

Genau das wird aber vielfach verlangt: Den Todeswunsch eins zu eins aufzugreifen und »zu helfen«. Was wollen uns die Leute eigentlich sagen, die in allen möglichen Foren plötzlich reihenweise behaupten, dieser oder jener Fall von Krankheit oder Behinderung sei absolut unzumutbar? Sie behaupten, sie wüssten das aus eigener Anschauung, obwohl sie für einen anderen sprechen, von dem man in der Regel nicht einmal erfährt, ob und wann und wie lange der sterben wollte.

Wollen diese Leute, die gleichermaßen öffentlich und demonstrativ mitleiden, vielleicht nur sich selbst die Zumutungen ersparen, die aus dem Kranksein erwachsen? Können sie das Leid ihrer Nächsten vielleicht einfach nicht mit ansehen? Das ist doch wohl zumindest nicht ausgeschlossen. Es wäre sogar verständlich, aber trotzdem wäre es falsch, ihrem Impuls nachzugeben. Zunächst hilft nur eins: Wir müssen anerkennen, dass Krankheit und Tod für Angehörige, Freunde, Pfleger, Ärzte u.s.w. unglaublich anstrengend sein können. Der Lebenswille, der auch ein leidvolles Leben schier endlos in die Länge ziehen mag, kann für die anderen unglaublich anstrengend sein. Selbst dann, wenn man gar nicht täglich damit konfrontiert wird.

Man führt einmal ins Heim, weil es angeblich ans Sterben geht. Fehlalarm. Ein paar Wochen später (zwischendurch fanden normale Besuche statt) fährt man noch einmal hin. Wieder Fehlalarm. Dann heißt es zum dritten Mal Abschied nehmen. Das kann über Monate oder Jahre so weitergehen. Man wird hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Trauer und weiß bald nicht mehr, was einem lieber ist. Erleichternd wäre die endgültige Klarheit in die eine oder andere Richtung. Krankheit und Tod können für alle unglaublich anstrengend sein, eine Zumutung, eine narzisstische Kränkung.

Pflege ist Schwerstarbeit. Ob bezahlt oder unbezahlt – sie verlangt ein Maximum an persönlicher Aufopferung für jemanden, dem es immer schlechter geht, und das womöglich jahrelang. Die durchschnittliche Pflegezeit beträgt in Deutschland acht (!) Jahre. Einen Todeswunsch stante pede* zu erfüllen, ist das Brutalste und Unmenschlichste, das einem dazu einfallen kann. Freilich erspart es dem Nächsten und der Gesellschaft ein hohes Maß an seelischen und finanziellen Aufwendungen. Ja, man spart wirklich sehr viel Geld – und noch mehr Liebe.

* »stante pede« (= sofort) gilt hier auch für die wochenlange »Prüfung« des Todeswunsches durch eine Sterbehilfeorganisation, denn Wochen sind gar nichts, wenn es um seelische Prozesse und seelische Heilung geht.