Sag mir wo die Männer sind

I.

Je mehr Tätowierungen es gibt, desto ornamentaler und bedeutungsloser werden sie. Früher zeugten diese Wundbilder von weiten Reisen, unglücklicher Liebe, überstandenen Haftstrafen und Kriegsschlachten. Aber heute? Die Tätowierten werden immer jünger, was mögen sie erlebt haben? Eine Vermutung: Ihre Bildwunden erzählen vom ungelebten Leben. Genauer, vom noch zu lebenden, nur dunkel geahnten. Es sind Vorzeichen unruhiger Zeiten.

 

II.

Als ich heute mit dem Fahrrad 25 Kilometer quer durch Berlin fuhr, von Heiligensee im Norden über Tegel, Moabit, Tiergarten und Schöneberg nach Tempelhof im Süden, sah ich unterwegs genau ein Paar, das beim Spazierengehen Händchen hielt (am Tegeler See, nicht mehr ganz jung) und genau eines, das sich küsste (bei der Siegessäule, noch jung und sehr apart). Beide Paare waren lesbisch. – »Sag mir wo die Männer sind, / zogen fort, der Krieg beginnt, / Wann wird man je verstehn? / Wann wird man je verstehn?«