Ideal der Unkeuschheit

Die romantische Liebe und die Hoffnungen der Gesellschaft

Der Kampf für die Gleichberechtigung der Homosexualität erweckt den Eindruck, als hinge es allein vom guten Willen der Gesellschaft ab, diese Form der romantischen Liebe mit dem Alltag und dem wirklichen Leben zu versöhnen. Das Drama der unglücklich Liebenden namens Romeo und Julia, die wegen der Feindschaft ihrer Familien nicht zueinanderkamen, gilt manchen als das Schwulendrama schlechthin, wenn es nicht schon Tristan und Isolde ist. Wo früher die böse, verblendete Gesellschaft schuld war, naht die Hilfe unserer Zeit, und prompt scheinen die altmodischen Schwierigkeiten endlich überwunden zu sein. Die bevorstehende Synthese von Alltag und romantischer Liebe wird nur noch von den allerletzten Hindernissen des Vorurteils und der Natur aufgehalten. Soviel glauben wir bereits zu erkennen: dass die alten Hindernisse keine mehr sind. Wollen und Können werden es schon richten, sagen sich die Zeitgenossen, sobald nur die letzten Reste von Homophobie beseitigt wurden und die katholische Kirche auch noch mit ins Boot steigt. Die ehehinderlichen Familienfehden haben wir außerhalb der großstädtischen No-go-Areas wirklich überwunden. Dafür fehlt uns aber ein Shakespeare, der jetzt die liebesfeindlichen Interessen der Emanzipation von Singles aufzeigen und das Drama unserer genderistischen Geschlechterapartheid schreiben würde.

Auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat die Ehe von Mann und Frau schon preisgegeben, seit es nicht mehr fragt, was Homosexualität und Heterosexualität sind, sondern wie jene so dargestellt werden könnte, dass sie sich von dieser nicht mehr beleidigt fühlt. Die homosexuelle Unfruchtbarkeit soll verschwinden wie die Taube im Ärmel des Zauberers, und zu diesem Zweck hat das ZdK die Abkehr von der »Defizitorientierung« (böser Blick!) erfunden und durch den »ressourcenorientierten Zugang« der personalen Wertegemeinschaft ersetzt – keine Werbeagentur hätt’s besser gekonnt, Neubewertung von wilder Ehe und Abtreibung inklusive. Als ob die Kirche das Gespräch erst erfinden müsste, lautet die Parole für die Familienpastoral jetzt »Zuhören statt Belehren«. Auch das ZdK lässt von nun an alles mal so stehen und gibt sich dem ethischen Relativismus hin, der sich auffallend einheitlicher und dogmatischer Sprachregelungen bedient.

Das alles verspricht nichts Geringes. Die Verachtung der klassischen Ehe und die Verherrlichung der Leidenschaft werden zu einem vermeintlich realitätstauglichen Ideal verschmolzen, bei dem alle auf ihre Kosten kommen. In Wirklichkeit tun das zwar nicht einmal die Homosexuellen selbst, wie die ernüchternden Zahlen zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und zu den Möglichkeiten gleichgeschlechtlicher Adoption zeigen, aber auf die Zahlen kommt es auch nicht an. Ganz im Gegenteil, je weniger das Ideal in die Wirklichkeit herabsteigt und konkret wird, desto größer bleibt die Hoffnung, dass diese Konkretion eine wirkliche Möglichkeit darstellt, wenn, ja wenn nur eines fernen Tages endlich die vorletzten, dann die letzten und schließlich auch die allerletzten technischen, gesellschaftlichen oder finanziellen Barrikaden beseitigt worden sind. Da sie durchweg künstlich gemacht zu sein scheinen (als unnötig gelten sie ohnedies), können sie mit einem ausreichenden Maß an Aufklärung und Volkspädagogik prinzipiell überwunden werden. Erlösung ist machbar. Allerdings ‒ je leichter es wird, jene Hindernisse tatsächlich zu beseitigen, desto unerträglicher werden die verbleibenden Enttäuschungen und desto mehr Schwierigkeiten in Form hartnäckiger Homophobie muss es geben, weil das Gesetz des Idealismus es will, dass die Realisierung ebenso greifbar nah rückt wie unerreichbar fern bleibt.

Die Emanzipationshoffnung erinnert an die unendliche Annäherung der Bogenlinie an die Gerade. Ein solcher Prozess kommt nie zu einem Ende, aber das Ende rückt immer näher wie die erwartete Parusie, die endlich erreichbare Gegenwart Gottes. Diese Hoffnung ist, wie bereits erwähnt, eine mystische: »Jeder Erotomane ist ein Mystiker, ohne es selbst zu wissen.« (Denis de Rougemont) Die Liebe, die er feiert, hat ein altes Vorbild. Es ist die höfische Liebe, der Minnesang. Damit ist nicht gemeint, dass die Homosexuellen zu Minnesängern mutieren würden, sondern ein Liebesideal, das von der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft dankbar, ja begierig aufgegriffen, genährt und mitgetragen wird, weil es die Hoffnung verspricht, dass sie aus ihrer unbefriedigenden Lage befreit würde.

Die Mehrheit braucht ja die Idee der Gleichheit, die beidseitig verwendbar ist, nur auf sich selbst anzuwenden, auf ihre Gleichheit mit den Homosexuellen, und schon ist alles, was in Sachen Homosexualität verhandelt wird, auch ihre eigene Angelegenheit: Tua res agitur. Das Ideal verspricht eine Wiederbelebung des sterbenden Eros, verspricht die Möglichkeit, mit dem Eros ins Unendliche zu gehen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, es verspricht ein Begehren jenseits des körperlich Möglichen, als könnte der nächtliche Reiz des Sexus den Weg zur Wahrheit und zum Licht ebnen, und dies umso mehr, als die neuen, immer näher kommenden, irgendwie bürgerlichen Verankerungen der Homosexualität die ganz konkrete Diesseitigkeit dieses Versprechens zu verbürgen scheinen. Je unähnlicher die bürgerliche Ehe sich selbst wird, desto leichter scheint sie von der Homo-Ehe belebt und beerbt zu werden.

Wie ist es aber möglich, die Emanzipation der Homosexuellen als eine ziemlich unzeitgemäße Vergegenwärtigung der höfischen Liebe zu interpretieren, wenn jene gerade nicht die keusche Verehrung der innig geliebten, aber unerreichbaren Dame in den Mittelpunkt stellt, sondern das ziemlich handfeste und hemmungslose Ausleben des sexuellen Begehrens? Das ist, wie schon Johan Huizinga in seinem Buch Herbst des Mittelalters gezeigt hat (auf das sich Denis de Rougemont ausdrücklich bezieht), kein Widerspruch. Das Ideal der Keuschheit, das die höfische Liebe errichtete, war jenseits des Zölibats schon damals nicht realistisch und ist es auch heute nicht: »Wer einen Engel aus sich machen will, macht ein wildes Tier aus sich«, sagt Pascal. Und Rougemont zeigt, dass das Ideal der Keuschheit direkt in das eingangs erwähnte »Ideal der Unkeuschheit« umschlug, das nun wirklich die Sexualität auch unserer Tage leitmotivisch beherrscht. Der häufig zu beobachtende Schwule mit seiner keusch geliebten mütterlichen Freundin bedarf der Triebabfuhr umso nötiger.

Schon bei Huizinga heißt es: »Jenes Genre, wo Männer niemals erschöpft und die Frauen allzeit willig sind, ist ebensogut wie die edelste höfische Minne eine romantische Fiktion. Was anderes als Romantik ist die feige Vernachlässigung aller natürlichen und gesellschaftlichen Komplikationen der Liebe, die Bemäntelung alles Lügenhaften, Selbstsüchtigen und Tragischen im Geschlechtsleben mit dem schönen Schein eines ungestörten Vergnügens. Auch hier herrscht wieder der große Kulturbetrieb: die Sucht nach dem schönen Leben, das Bedürfnis, das Leben schöner zu sehen, als die Wirklichkeit es darbot, daher das Hineinzwingen des Liebeslebens in die Form eines phantastischen Wunsches, jetzt aber durch Übertreibung nach der tierischen Seite hin [Hervorh. von mir; A.L.]. Ein Lebensideal: das Ideal der Unkeuschheit.«

(Ein Auszug aus dem zehnten Kapitel von Homosexualität gibt es nicht)