Kategorie-Archiv: Literarisches

Frühes Verschwinden

Aus der großen Stadt zogen wir fort in die kleine Stadt. Vom Bahnhof der kleinen Stadt, der am Rand eines Waldes lag, fuhren Mutter und ich einmal im Monat mit der Bahn in die große Stadt zum Einkaufen. Auf diese Einkaufsfahrten freute ich mich sehr. Ich bekam unterwegs Spielzeug geschenkt; etwa kleine, schwere Metallflugzeuge, die wir aus einem der großen Kaufhäuser mitbrachten, in denen wir uns viele Stunden lang bei den dort angebotenen Waren aufhielten. Manchmal sahen wir vom Waggon aus sogar den Hafen, der an einem großen Fluss lag.

Eines Tages, als wir wieder in der Bahn saßen, sagte Mutter plötzlich zu mir, dass ich ihr während der Fahrt nicht so viele Fragen stellen solle. Oft wisse sie die Antwort nicht, und das sei ihr peinlich vor den anderen Leuten. Mir war gar nicht aufgefallen, dass Mutter die Antworten nicht gewusst hatte. Ich verstand auch nicht, warum sie die Peinlichkeit fürchtete, etwas nicht zu wissen, noch bevor ich sie überhaupt gefragt hatte. Ich dachte, wenn man etwas nicht weiß, dann weiß man es nicht. Dann könnte es einem doch egal sein, dachte ich, was die anderen Leute darüber denken. Jedenfalls überraschte es mich, dass ich auf einmal sprechen sollte, als ob all die Leute nur auf das Ausbleiben von Mutters Antworten warteten. Das konnte doch gar nicht sein. Die Bahnfahrt war doch immer so gemütlich gewesen. Während der Bahnfahrt freute ich mich doch auf den Besuch in der großen Stadt.

Ging es darum, einen geheimen Ärger der anderen Leute auszuräumen und sie zu beschwichtigen? Wir kannten diese Leute doch gar nicht, und sie hatten auch gar nichts gesagt. Ich konnte mir das Problem von Mutter nicht erklären lassen, denn Nachfragen waren nun auch verboten. Sie unternahm auch später keine Anstrengung, mir die Sache zu erklären. Ich nahm aber an, dass uns die anderen Leute gar nicht so genau zugehört hatten wie Mutter glaubte, dass sie es getan hätten. Denn die Unzufriedenheit, die Mutter fürchtete, hatten sie uns, wie gesagt, in keiner Weise spüren lassen. Und dann fand ich auch, dass die Unzufriedenheit, die Mutter den anderen Leuten beim Belauschen unserer Gespräche unterstellte, selbst wenn es sie wirklich gab, nicht so schwer wog, dass wir unser Verhalten danach hätten ausrichten müssen.

Ich fragte mich, auf welch geheimnisvolle Weise Mutters Wunsch, ich möge ihr keine Fragen mehr stellen, so groß geworden war, dass er von einem Augenblick auf den anderen unser Gespräch hatte unterbinden können. Obgleich mir der genannte Grund nicht einleuchtete, wollte ich Mutter ihren Wunsch erfüllen. Daran, dass ich Mutter gehorchte, irritierte mich, dass ich dadurch den anderen Leuten einen Gefallen tat, von denen weder eine Dankbarkeit zu erwarten war noch sonst eine Reaktion. Von jetzt an machte ich also nur noch kleine, harmlose Bemerkungen. Oder ich stellte nur noch ganz leise eine Frage, von der ich sicher wusste, dass Mutter sie würde beantworten können. Unsere Eisenbahngespräche wurden zäh und verhalten. Bei meinen wenigen Anläufen ging es  nur noch darum, Mutter und mich für einen Augenblick aus unserem Schweigen zu erlösen. Die Pausen wurden immer länger. Unser Schweigen wurde nur noch dann und wann von einem knappen Wortwechsel unterbrochen, so wie in gewissen Abständen die Fahrt dadurch unterbrochen wurde, dass der Zug an einer Station hielt, wo sich die Türen öffneten und vom Bahnsteig frische Luft und Stimmengewirr in den Waggon hereindrangen.

Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass Mutter sich nun wohler fühlte. Es nützte eigentlich gar nichts, dass ich ihr weniger Fragen stellte oder wenigstens flüsterte. Vielmehr verschlechterte sich die Stimmung. Mutter wirkte auf einmal abwesend. Das hatte sie vorher nicht getan, und die anderen Leuten, die für mich zuvor abwesend gewesen waren, rückten uns nun seltsam nahe, indem sie plötzlich eine viel zu große Bedeutung für unsere gewiss nicht bedeutenden Plaudereien bekommen hatten. Mutter hatte auf einen Unmut reagiert, den es gar nicht gab. Sie hatte auf Leute reagiert, die es gar nicht gab. Irgendwelche unwirklichen Leute hatten mir die Freude an unserer Bahnfahrt geraubt. Ich wusste, dass da etwas nicht stimmte. Ich wusste, dass die anderen Leute unschuldig waren. Ich wusste, dass Mutter die anderen Leute zwischen uns beide geschoben hatte. Aber es nützte mir nichts, das zu wissen. Mutter war verschwunden, und ich auch.

Von Kügelchen lernen

Was ist das Eigene? Das Eigene ist das Wahre, Schöne und Gute. Ich wiederhole das, weil man es so leicht vergisst. Vermutlich eines der wahrsten, schönsten und besten Bücher überhaupt sind Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen eines Alten Mannes über seine Kindheit im frühen 19. Jahrhundert. Es wurde wirklich gelesen, und zwar massenhaft. Weil es so schön ist. Der »Kügelchen« ist Homöopathie für die Seele. Im Kügelchen finden wir alles, was uns heute fehlt. Am Vorabend der Industrialisierung haben alle Dinge, Landschaften und Menschen besonders kräftig geleuchtet. Kügelgens Kindheit war noch wahrhaftig, beseelt, liebevoll, abenteuerlich, gefährlich, traurig und schön. Die Welt war noch groß und weit, und die Tage waren noch lang. Das Leben war unendlich viel mühsamer und gefährlicher war als heute. Deshalb war es auch viel schöner.

Spielzeug wurde ausgedacht, erfunden und vor allem selbstgemacht. In einem fort wurde gemalt, geschnitzt, gegossen, gedrechselt und geschraubt. Ebenso intensiv wurde gewandert, gearbeitet, gelesen, gesungen, musiziert, gelitten, gelernt, gehofft, gelacht und geweint, erzählt und zugehört, geachtet und geholfen. Alles war mit allem verbunden. Es gab noch »ächte« Originale mit ureigenen Angewohnheiten und Prinzipien. In der wackelnden Postkutsche fanden sich die Leute ebenso aufeinandergeworfen wie im Gasthaus. Es sei denn, sie spazierten wie Seume zu Fuß und »schneller als die Post« von Leipzig nach Dresden. Dann freilich gab es die Gefahr, unterwegs ausgeraubt und erschlagen zu werden, wie es auf herzzerreißende Weise dem Vater des Autors am Schluss dieses schönen Buches geschieht.

Auch der Tod war gegenwärtiger als heute, und mit ihm das Leben. Auch die Trauer war gegenwärtiger war als heute, und mit ihr die Freude. Wir wissen, wie wir glücklich sein könnten. Und wenn wir es nicht wissen, weiß es Kügelchen. Aber was machen wir? Wir verlangen nach einem demütigenden Abstraktum wie »kultureller Teilhabe«, natürlich für die anderen, für die Armen. Als ob die nicht mehr lesen könnten. Wir verlangen so unverschämt viel vom Leben, von den anderen, von der Zukunft, von den Medien, von der Technik, von der Forschung, von der Politik oder vom »Service«, dass alles schal wird, was wir sonst noch haben und können. Wir verlangen so viel mehr als das, was wir haben und können, dass uns allein der Abstand unserer Ansprüche von dem, was wir haben und können, depressiv und todessüchtig macht. Wir gieren nach dem Leben, als wären wir tot. Manchmal könnte man meinen, wir wären irgendwann in den zurückliegenden zweihundert Jahren unbemerkt von uns selbst verstorben. Und nun täten wir alles, um nicht wieder aufzuwachen.