Der Gallier aus Prag

Václav Klaus in Berlin

Nicht alle Tage schlüpft ein Staatsmann in die Rolle des Revolutionärs. Noch weniger ein Staatsmann, der seine Rede damit einleitet, dass er fürchte, der einzige Krawattenträger im Saal zu sein; wozu es in Berlin auch an diesem Abend Grund genug gab. Seine schonungslose Kritik an der Zerstörung der nationalen Souveränität in Europa, an überbordenden Wohlfahrtsstaaten, an der fortschreitenden Entmündigung der Bürger und an einer planwirtschaftlichen Überregulierung des vormals freien Marktes ist spätestens seit seiner Rede vor dem EU-Parlament im Jahre 2009 gewiss nicht unbekannt; damals verließen mehrere Abgeordnete aus Protest den Saal. Es ist aber sehr erfrischend, sie aus seinem eigenen Munde zu hören. Wer immer noch nicht glaubt, dass der Totalitarismus der untergegangenen Sowjetunion in dem der EU seine zwar nicht mörderische, aber ansonsten in vielem vergleichbare Fortsetzung finde, der sollte sich von dem früheren tschechischen Präsident Václav Klaus eines Besseren belehren lassen, der Donnerstagabend auf Einladung der AfD in Berlin sprach und anschließend mit Beatrix von Storch und Alexander Gauland diskutierte.

Den Sieg des »Sozialdemokratismus« durch Import des politischen Systems der EU in sämtliche Mitgliedsländer, die anhaltende Züchtung von »Anspruchsgesellschaften«, die Schwächung, nicht die Stärkung der politischen Zusammenarbeit gleichberechtigter Staaten durch den Lissabon-Vertrag und nicht zuletzt der irrige Glaube an Finanztransfers und »oberflächliche Reformen«, diese insgesamt »passive und unverantwortliche Einstellung«, so Klaus, würden »uns unsere Kinder und Enkelkinder nicht verzeihen«. Bereits Helmut Kohl habe leider kein Ohr für die wirtschaftlichen Probleme gehabt, die mit einer Einheitswährung würden aufkommen müssen. Die postdemokratischen Tendenzen seien, auch wenn die Mehrheit der Bürger dies nicht erkenne, noch gefährlicher als die wirtschaftliche Stagnation. Die Eliminierung jedweder Grenzen sei aber ein tragischer Fehler und die hohe Zuwanderung eine Folge sogenannter sozialstaatlicher Errungenschaften. Schlichtweg jedes Problem werde der Unvollkommenheit des Menschen zugeschrieben; das habe auch Breschnew schon getan. Ein politisches System wie das der EU, das einen solchen Irrglauben pflege, habe keine Zukunft, sei nicht reformierbar und ein Zusammebruch unausweichlich. In der Sackgasse führe der Weg nur zurück, ein Paradigmenwechsel sei daher die einzige Lösung.

»Ich kann nicht sagen, dass ich für Europa bin«, fuhr Klaus dem naiven Gebrauch dieses Begriffs durch den Moderator in die Parade, um immer wieder zwischen Europa und der Europäischen Union zu unterscheiden, »denn ich kann auch nicht für Asien oder Amerika sein. Im Übrigen bin ich Prager, Tscheche und Mitteleuropäer, und von Europa spreche ich höchstens in Australien oder Südafrika, wo man die kleine tschechische Republik nicht kennt«. (Klaus schien jene Werbeplakate vor Augen zu haben, auf denen, wohlgemerkt in Deutschland, Flüge »nach Europa« angeboten werden …) Als die Sprache auf die gemeinsame Geschichte kam, wirkte der mit politischer Großraumromantik nicht zu beeindruckende Verteidiger der Beneš-Dekrete überraschend sympathisch: »Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich eine gemeinsame Geschichte mit Finnland, Irland oder Portugal habe.« Würde auch nur ein einziger vergleichbar ehrlicher Satz einem deutschen Politiker entschlüpfen – und sei er noch so geschichtsvergessen dahergesagt –, die Lage wäre weniger trostlos.

»Ich muss immer die jungen Leute korrigieren«, klagte Klaus gegenüber Beatrix von Storch, als er noch einmal den irreführenden Gebrauch des Begriffs »Europa« zurückwies. Die Frage laute nicht, wo Europa ende, wenn es um Europapolitik geht (»Wir sind doch keine Geografen!«), sondern, wo die Grenzen der Europäischen Union lägen. Sein Eigensinn ließ Frau von Storch aber keine Ruhe, und sie erinnerte Klaus an die deutsch-tschechische Geschichte, die auch unter Einbezug der Negativa eine gemeinsame bleibe. Alexander Gauland brachte die lange gesamteuropäische Tradition in Gegensatz zum »bürokratischen Zwangseuropa«, einem reinen Elitenprojekt, dem der Rückhalt in der Bevölkerung fehle. Ein gemeinsames öffentlich-europäisches Bewusstsein gebe es nicht; die Bürokratisierung der EU sei ein ahistorischer Vorgang. Klaus beharrte auf seinem entscheidenden Punkt: Integration ja, Unifikation nein. Seit Maastricht sei die EU auf dem Irrweg. Es gebe keinen europäischen demos, kein europäisches Volk. Für Politiker sei das ein Paradies, das ihnen erlaubt, den Willen des Bürgers zu eliminieren und das jeweilige Nationalvolk zu politischer Ohnmacht zu verurteilen. Aktuell seien nur sechs Prozent der Tschechen für eine Einführung des Euro. Mittel- oder langfristig seien auch nur 16 Prozent dafür, und das heiße, dass die Mehrheit dagegen ist. Was die tschechischen Politiker nicht hindert, gegen ihr eigenes Volk zu handeln.

Die gegenwärtige Misere haben natürlich wir Deutsche zu verantworten, wie Klaus nebenbei bemerkte. Das war nicht in böser Absicht gesagt, und seine Ermunterung an die AfD, langfristig 51 Prozent der Wähler zu gewinnen, war jedenfalls frei von Resignation. Aber zu Klaus‘ Kritik an der europapolitischen Rolle Deutschlands passte allzu gut Gaulands Hinweis, dass die Ideologisierung Europas bei uns am weitesten vorangeschritten sei, weil die Deutschen (insbesondere unsere Eliten) seit 1945 mehr oder weniger auf der Flucht vor sich selbst sind.  Trotz oder gerade wegen des verzweifelten Willens der Deutschen, als gelehrige Schüler der Geschichte zu agieren, führt das Friedensprojekt »Europäische Einigung« immer öfter zu seltsamen Déjà-vu-Effekten.

Die Einheitswährung, die in den wirtschaftlich schwachen Ländern zu großen Verwerfungen und zu einer unerträglichen Bevormundung u.a. durch Deutschland führt (bekommen Krebspatienten in Griechenland eigentlich nach wie vor keine Medikamente?), wird bei uns, wenn der Zahltag kommt, als das erkannt werden, was sie daneben auch ist, als das ruinöse Ergebnis einer weiteren, diesmal von Deutschland kräftig unterstützen Einkreisungspolitik, die sich etwa in den bekanntlich absurden, den realen Verhältnissen nicht entsprechenden Stimm- und Kräfteverhältnissen der EZB niederschlägt. Sehr viel scheint sich im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht geändert zu haben, nur dass es diesmal die Lust am Verschwinden gewesen sein wird, die Deutschland für viele Länder so unerträglich dominant machte – ohne dass das »Herzland« sie mit seinem unbestreitbaren Gewicht wirklich beherrschen konnte. Aber auch das ist schließlich ein alter Hut.

Ausweitung der Grauzone

Neues zum Thema Sterbehilfe


Auf instinktiver Ebene weiß waches Leben unfreiwillig mehr, als ihm lieb sein kann, von den Verlegenheiten des Daseins
auf der nach vorn geneigten schiefen Ebene. Der Grad des Neigungswinkels unterliegt dem Streit – den nennen die Höflichen »Politik«.

Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit.
Über das anti-genealogische Experiment der Moderne,
Berlin 2014, S. 86

 

Mit einer Deutlichkeit, die auch seitens der Katholischen Kirche in Deutschland nicht eben häufig ist, hat sich Kardinal Woelki Dienstagabend in Bonn gegen Sterbehilfe ausgesprochen: »Seit wann, muss man entschieden fragen, haben Ärzte die Lizenz zum Töten? Es kommt einer Pervertierung des Arztberufes gleich, wenn der, der Leben erhalten soll, es preisgibt. […] Es ist erschreckend, zu sehen, wie sehr die Tabuisierung der Sterbehilfe, die nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten jahrzehntelang Konsens war, in den aktuellen Debatten fällt.« In der Tat werden wir uns bald fragen müssen, welche Sorte von Arzt wir vor uns haben. Einen, der uns helfen will, gewiss. Aber auf welche Weise?

Zur selben Zeit, da Woelki in Bonn in einem vollbesetzten Saal sprach, fand in der Katholischen Akademie Berlin die Jahrestagung der Juristenvereinigung Lebensrecht statt. Dort wurden mehrere Positionspapiere der Bundesparlamentarier zur Regelung der Suizidhilfe diskutiert. Wohlgemerkt: Zur Neuregelung geäußert haben sich Abgeordnete des Deutschen Bundestages, darunter auch die ehemalige Ministerin Kristina Schröder, nicht aber die Bundesregierung selbst, die sich seit dem nicht realisierten Gesetzentwurf der Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger (den das Kabinett immerhin einstimmig beschlossen hatte) auffällig bedeckt hält. Der eigentliche Dissens war allerdings nicht auf dem Podium zu erleben, sondern zwischen Podium und Publikum. Die Parlamentarier, die zum Teil überfraktionelle Gruppenentwürfe vorstellten, unterschieden sich in ihren Vorschlägen minimal.

Alle wollen sie, selbstverständlich, die Hospiz-Arbeit und die Palliativmedizin stärken. Das will auch die Bundesregierung – und sei es, um Ängste vor Schlimmerem zu besänftigen. Alle finden sie die Angebote eines Roger Kusch unseriös und verwerflich. Fast niemand aber will die aktuelle Gesetzeslage, nach der die Suizidbeihilfe allein durch das ärztliche Standesrecht behindert wird, verschärfen. Mit einer einzigen, Dienstagabend auf dem Podium leider nicht vertretenen Ausnahme. Vielmehr geht es etwa den Ageordneten Kristina Schröder (CDU/CSU) und Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen) ausdrücklich darum, das ärztliche Standesrecht der Bundesgesetzgebung zu unterwerfen, was leider auch manche Ärzte befürworten, die endlich aus der »Grauzone« gelegentlich praktizierter Suizidbeihilfe herauswollen. Und das, obwohl doch weit und breit kein Arzt wegen einer solchen Tat rechtskräftig verurteilt worden wäre, wie der Heidelberger Jurist Ekkehart Reimer betonte. Auch bislang wurde unter ärztlichem Beistand durchaus würdevoll gestorben und wenn nötig, auch unter professioneller Therapie von Angst, Schmerzen und Atemnot, die alle drei behandelbar sind.

Offiziell wird im Grunde aber nur noch die Frage diskutiert, ob und in welcher Form die organisierte und geschäftsmäßige Sterbehilfe erlaubt werden soll (dagegen sind Kerstin Griese, SPD, u.a.) und welche Sicherungsmaßnahmen ihr mit auf den Wege gegeben werden, wobei aus der Erfahrung der anhaltend hohen Abtreibungszahlen heraus klar sein dürfte, was erschwerende Auflagen dem Lebensschutz langfristig bringen – nämlich nichts. Bündnis 90/Die Grünen wollen die Sterbehilfevereine und die geschäftsmäßige Suizidhilfe aufwerten und auch die Werbung für Sterbehilfe erlauben (in der Schweiz kämpfen die Sterbehilfevereine derzeit recht erfolgreich um Zutritt zu Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen). Die Grünen preschen von allen Abgeordneten am weitesten nach vorn. Sie haben immerhin in diesem einen Punkt recht, den die Abgeordnete Keul gestern vorbrachte: Dass eine verbotene oder verwerfliche Tat nicht dadurch besser würde, dass sie nur Einzelpersonen (Angehörigen, Ärzten und Freunden) erlaubt wäre, nicht aber Vereinen und Organisationen.

Wenn diese Art »Hilfe« überhaupt erlaubt sein soll, dann müssen alle »helfen« dürfen, solange sie nicht von niederen Beweggründen getrieben sind und nicht die Tatherrschaft zu erlangen versuchen, also jemanden zum Suizid überreden wollen. Aber wer kann das kontrollieren? Wer ist schon wikrlich dabei, wenn Sterbewilliger und Suizidhelfer den Tod beschließen? Wir dürfen gespannt sein, wie man Übergriffe und Nötigungen künftig verhindern wird, wenn dieselbe Abgeordnete Keul davon ausgeht, dass es keiner besonderen Dokumentationspflichten bedürfe, da ohnedies jeder Arzt bestrebt sein werde, den Willen des Suizidenten für den Fall etwaiger Vorwürfe und Klagen nachzuweisen. Der Vertrauensvorschuss ist mindestens erstaunlich. Dies wundert einen aber nicht bei einer Partei, die sich nur um die Ökologie der Tiere und der Natur im Allgemeinen kümmert und die des Menschen geradezu rachsüchtig bekämpft.

Der bereits erwähnte Heidelberger Jurist Ekkehart Reimer war es, der in seinem Eingangsreferat eine bemerkenswerte Parallele zu den Jägern und Gejagten der Vorgeschichte zog. Damals wie heute neigten die Menschen dazu, diejenigen, die nicht mehr mitkämen, zurückzulassen, damit das Wohl der übrigen nicht von der Hilfsbedürftigkeit der Schwachen beeinträchtigt werde. Auch solche Parallelen können die Grünen nicht von ihrem Brutalisierungskurs abbringen. Hartnäckig widersprach die Abgeordnete Keul mehrfachen Hinweisen aus dem Publikum, dass die schiefe Ebene zwangsläufig zu einer dramatischen Zunahme der Sterbehilfefälle führen werde. Dafür gebe es keinerlei Beleg, behauptete sie, obwohl doch bekannt ist, dass etwa die Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit im Jahre 2013 einen dramatischen Zuwachs von 8000 Mitgliedern zu verzeichnen hatte. 2014 schieden bei Exit mit 583 Suizidenten bereits 25 Prozent mehr Menschen aus dem Leben als im Vorjahr. Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 2015 wurden 5000 neue Mitglieder aufgenommen, und damit dürfte sich der Zuwachs von 2013 schon in diesem Jahr vervielfachen. In zehn oder zwanzig Jahren dürften die Fälle assistierten Suizids also in die Zehntausende gehen.

Patrick Sensburg (CDU/CSU) ist einer derjenigen Abgeordneten, die sich für den vollen Lebensschutz einsetzen und eine Strafbarkeit der Suizidbeihilfe fordern wollen, und zwar mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Sensburg saß am Dienstag nicht mit auf dem Podium. Warum eigentlich nicht? Wie kommt es, dass in der Veranstaltung einer Lebensrechts-Organisation im Hause der Katholischen Akademie niemand eine katholische Position vertritt, dass auch nicht einziges Mal das fünfte Gebot vorgebracht wird? Dabei wäre doch der Einbezug gerade dieser Position die einzige Möglichkeit, die Rede von einer ergebnisoffenen Debatte zu rechtfertigen. Aber offenbar soll eine solche gar nicht stattfinden, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz. Je größer der Veranstaltungsreigen zu diesem Thema wird, desto belangloser und nichtssagender wird er auch, und desto mehr stellt sich das Gefühl ein, die entscheidende Schlacht fände überhaupt nicht statt oder sei längst entschieden. Seit wann sind sich Politik, große Medien und Wirtschaft einig, dass der »demografische Wandel« das »sozialverträgliche Frühableben« benötige, wie der damalige Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar das schon 1998 nannte?

Wie gesagt, der Widerspruch kam Dienstagabend allein aus dem Publikum, von dort aber unisono. Das führte immerhin zu einem merklichen Unwohlsein auf dem Podium. Aber nicht einmal Katharina Jestaedt vom Kommissariat der deutschen Bischöfe konnte sich in ihrer Antwort auf die Wortmeldungen dazu durchringen, die christlicherseits einzig naheliegende Position zu vertreten. Warum musste ausgerechnet sie, die sie ja nicht den Gesetzgeber vertrat, darauf hinweisen, dass das, was dieser beschließt, auch für Nichtchristen (die noch dazu bislang in der Minderheit sind) »valide« sein müsse? Was treibt die deutschen Bischöfe? Was hindert sie, bei einer solchen Gelegenheit deutliche Worte zu finden?

Zu den interessanteren Hinweisen des Abends gehörte erstens die Erwähnung von empirischen Studien durch den Diskussionsleiter Daniel Deckers (FAZ), nach denen sterbewillige Patienten dem assistierten Suizid die Tötung auf Verlangen vorzögen. Es klingt plausibel, dass sie lieber gleich alles dem Arzt oder Helfer überlassen. Wir bekommen also bald eine weitere Diskussion um Tötung auf Verlangen, sobald der assistierte Suizid alltäglich geworden ist. Die Abgeordnete Keul sagt aber, die schiefe Ebene lasse sich nicht beweisen. Zweitens: Pro Jahr gibt es in der Bundesrepublik rd. 100.000 Suizidversuche und 10.000 gelingende Suizide. Das ergibt einen potentiellen Kundenstamm, der weit über den Mitgliederzahlen von Exit und Dignitas liegt. Sollen jene 90.000 Menschen, die ihren Suizidversuch bislang überleben (bei weitem nicht alle starten einen zweiten Versuch) ihn künftig nicht mehr überleben? Wer will dazu beitragen, dass sie ihn nicht mehr überleben? Ihre Hausärzte, die sich bislang um die Nachversorgung, etwa um die Heilung der Schnittwunden gekümmert haben?

Den Werther-Effekt haben wir da noch gar nicht berücksichtigt … Die Abgeordnete Keul sagt aber, die schiefe Ebene lasse sich nicht beweisen. Drittens: Der Schweizer Außenminister habe jüngst beklagt, hieß es, dass die meisten Fälle von Sterbehilfe auf ältere, alleinstehende Frauen aus Großstädten entfallen (drei Fünftel der Mitglieder von Exit sind Frauen). Allmählich fürchtet die Schweiz angesichts der vielen Suizidtouristen offenbar um ihre Reputation. Wenn das Durchschnittsalter der Suizidenten heute bei 77,5 Jahren liegt, dann können wir uns jedenfalls ausrechnen, was uns beim Altwerden der geburtenstarken Jahrgänge mit ihrem hohen Singleanteil erwartet, also in zwanzig bis dreißig Jahren. Die Abgeordnete Keul sagt aber, die schiefe Ebene lasse sich nicht beweisen. Wahrscheinlich würde sie das auch für die 100.000 Abtreibungen pro Jahr behaupten, deren Zahl nur noch relativ zur sinkenden Bevölkerungszahl steigt.

Natürlich kann die Bundesrepublik mit einer gesetzlichen Regelung der Suizidbeihilfe dafür sorgen, dass die Leute nicht mehr in die Schweiz fahren müssen (geht es darum, sich die Anteile an einem künftig stark wachsenden Markt zu sichern?). Das Ergebnis wird aber sein, dass die Sterbewilligen dann aus den Ländern, in denen der assistierte Suizid bislang verboten ist, nach Deutschland kommen werden, nämlich aus Österreich, Polen, Italien, England, Wales, Portugal und Spanien. Will das der Deutsche Bundestag? Will das die Bundesregierung? Dazu ein Zitat aus der Begründung des von Patrick Sensburg vertretenen Gesetzentwurfs:

»Die Angehörigen und Freunde werden sicher nicht selbst in der Apotheke das Gift kaufen, sondern den Arzt auffordern, dem Suizidenten zu ›helfen‹. Dies umso mehr, wenn das bisher in der Regel zur Selbsttötung verwendete Gift Natriumpentobarbital zur Verwendung am Menschen freigegeben würde. Natriumpentobarbital darf nach § 13 BtMG lediglich in der Veterinärmedizin zum Einschläfern von Tieren verordnet werden. Wenn man die ärztliche Beihilfe zum Suizid erlauben würde, würde man auch im Betäubungsmittelrecht insofern Änderungen vornehmen müssen. Damit würde man im wörtlichen Sinn den Giftschrank öffnen, und das im bevölkerungsreichsten Land Europas, das zugleich über die höchste Zahl an Ärzten verfügt. Der oft beklagte ›Sterbehilfe-Tourismus‹ würde dann Deutschland als Ziel wählen.«

Wenn die vielbeschworene »Autonomie«, auf die sich die Befürworter der Sterbehilfe stützen, das letzte Ziel und das oberste Gebot ist, warum wollen sie dann nicht auch die Tötung auf Verlangen erlauben, zumal es Fälle gibt, in denen der Suizident nicht einmal einen Becher halten kann? Warum dann den Suizid auf tödlich Erkrankte begrenzen? »Trotz der bleibenden Einsprüche der Kirchen [die ziemlich schwach ausfallen, A.L.] wollen viele Menschen selbst entscheiden, wie sie ihr Leben beenden, also auch ohne tödliche Krankheit einen Suizid verüben können, ohne dabei auf ärztliche Begleitung verzichten zu müssen.« (Heike Schmoll, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.4.2015)

Tatsächlich, so stellt die Begründung des einzigen Gesetzentwurfs mit Rücksicht auf den Lebensschutz klar, wird der heute schon erkennbare Versuch, die gegenwärtige Grauzone zu beseitigen, zu ihrer unabsehbaren Ausweitung führen. Die Tötung auf Verlangen ist verboten, weil die Behauptung, »auf Verlangen« des Toten gehandelt zu haben, ohne dessen Zeugenschaft so überaus schwer nachzuweisen ist. Bei der Berufung darauf, nur Beihilfe geleistet zu haben, sieht es aber nicht besser aus: »Diese Aussage ist gerichtlicherseits kaum überprüfbar. Würde man dem Täter zugestehen, dass er sich darauf zurückziehen kann, nur ›geholfen‹ zu haben, würde man einen tatsächlich rechtlich nicht mehr überprüfbaren Raum schaffen.«

Tatsächlich muss alle Tötungsenergie, die der Suizident nicht selbst aufbringen kann oder will, vom Helfer kommen. Je mehr der Helfer hilft, desto mehr wird er zum Täter, desto mehr muss er sich den Todeswunsch des anderen, der nicht sein eigener ist, zu eigen machen. Er muss selber wollen, dass der andere stirbt. Wie kann er das wollen und warum? Wie ist es möglich, die lauteren Motive jemals von den unlauteren zu scheiden? Niemand kann bei genauem Nachdenken »helfen«, ohne aktiv zu töten. Der leichte, schmerzlose Selbstmord, der Selbstmord für alle, wird logischerweise von der Ausnahme zu Regel, wenn das Tötungsverbot fällt. Er wird zu einem dauerhaften Alternativangebot, zu einer makabren Zusatzleistung, sobald die Hemmschwellen für die Helfer abgebaut wurden.

Die Dienstagabend wiederholt betonte Straffreiheit für den Helfer gibt es im deutschen Strafrecht leider wirklich. Dabei handelt es sich um eine schlichte Gesetzeslücke, die die europäischen Nachbartstaaten nicht kennen. Bei der Frage nach der Freiheit von Schuld sieht es im Hinblick auf den »Helfer« und seine Helfershelfer aber schon ganz anders aus. Beim Suizid wird der Weg vom Dürfen über das Sollen (wir werden es wollen sollen) zum Müssen führen. Rette sich wer kann, vor allem vor dem Helfenwollen.

Die Verachtung des Eigenen – Neues aus dem Fundbüro Nr. 10

Aus der Rede von Götz Kubitschek am 9. Februar 2015 in Dresden:

»Wir brauchen Zeit, um in diesem Irrenhaus aufzuräumen. Wir brauchen Zeit, um zu uns selbst zu kommen, denn das Eigene hat unser Volk beinahe vergessen. Die Verachtung des Eigenen muß ein Ende haben. Wir müssen die Verteidigung des Eigenen auf unsere Fahnen schreiben.«

Nie wieder Prügel oder Warum wir Putin hassen sollen

In einer wie gewohnt herrlich satt- und volltönenden Tirade hat Michael Klonovsky aus dem hysterischen Putin-Haß deutscher Regierungsvertreter das seit siebzig Jahren daueraktuelle deutsche Selbstverständnis destilliert:

Das Gekläff der meisten deutschen Politiker gegen Putin ertönt hinter den Hosenbeinen ihres transantlantischen Apportiermeisters (und zwar desto beflissener, je näher sie der CDU stehen). Die Lehre, die von deutschen Politikern aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurde, ist nämlich sehr simpel: Man wollte nach der Prügel zweier verlorener Weltkriege fortan nurmehr noch auf der Siegerseite stehen, koste es, was es wolle, die Tradition, den Nationalstolz, die Ostgebiete, die Währung, die Sprache, die ethnische Substanz – egal. Nur nie wieder solche Prügel! Niemals wieder auf eigene Rechnung Politik machen! Lieber allmählich von der Landkarte verschwinden, als je wieder allein gegen alle stehen. Aber die Untertanen-Mentalität der deutschen Politiker hat sich bei diesem Wechsel auf die Seite der Weltkriegssieger und schließlich auf jene des Triumphators im Kalten Krieg nicht geändert, sie ist so sturheil wie sturdeutsch geblieben, und heute heißt es eben: Amerika befiehl, wir folgen! Sogar Linke, wenn sie mal in Regierungsverantwortung geraten, fressen diese Lektion meist sofort, mögen sie vorher dutzende Male gegen die Amis demonstriert haben; fragen Sie den Fischerjockel oder Trittin. Und was ist aus amerikanischer Sicht seit 100 Jahren das schlimmste politische Szenarium für Europa? Genau: dass Russland und Deutschland sich – nein, nicht einmal verbünden, nur politisch annähern könnten. Allein der Gedanke macht die Amerikaner unruhig, und ein guter Pinscher fühlt Herrchens Erregung und teilt sie stracks, indem er erregt zu tänzeln und zu kläffen beginnt, wie man es ihm auf den Dressurwettbewerben der Bilderberger beigebracht hat. Das ist und bleibt der Modus der deutschen Außenpolitik, der Außenpolitik eines widerlegten, durch Prügel „klug“ gewordenen (Rest-)Volkes.

Für die nüchterne Erwägung dessen, was man gemeinhin nationale Interessen nennt, lässt eine solche Konditioniertheit wenig Raum, Herrchens Wille ist längst der eigene (umso rühmlicher im Nachhinein Gerhard Schröders Weigerung, beim Überfall auf den Irak mitzutun), wer etwas anderes sagt, wird sogar bei einem informellen Abendessen angebellt. Herrchen sieht und hört nämlich alles. Da diese hysterisch verteidigte Unselbständigkeit durchaus etwas Ehrenrühriges hat, schmückt sie sich mit allerlei Gesinnungsputz, mit dem langen Wegs nach Westen etwa oder der Verteidigung von Weltfrieden, Grundgesetz, Menschenrechten umd Mülltrennung am Hindukusch. Oder eben einer Verhinderung des Teufelspaktes von anno 1939. Ohne solche Kosmetik – und das bisschen Kontra seitens der Kanzlerin gegen ein direktes Auf-den-Gegner-gehetzt-werden – stiege die Selbstverachtung ins Uferlose.

(Aber vielleicht liege ich ja völlig daneben, und hinter den Kulissen waltet unbeirrt die gute doppelzüngige Normalität …)

Den vollständigen Beitrag finden Sie hier (Acta diurna vom 14. Februar 2015).

Homofilm, homophob

Spiegel online empfahl am vergangenen Wochenende den Film Freier Fall (2013) von Stephan Lacant, der praktischerweise direkt verlinkt wurde. In ihrer Ankündigung verhöhnte die Redaktion von S.P.O.N. den heterosexuell lebenden Polizisten Marc von vornherein als »Spießer«: »Doppelhaushälfte abbezahlt, Frau schwanger, Karriereaussichten gut. Doch dann verliebt er sich in seinen Arbeitskollegen Kay – und plötzlich steht seine Welt kopf.« Eine bemerkenswerte Doppelzüngigkeit: Ein privat und beruflich geordnetes Leben wird denunziert, damit es so aussieht, als ob der Mann die auftretenden Turbulenzen irgendwie verdient hätte. Sie stürzen ihn notwendigerweise, so scheint es, in ein anderes (und besseres?) Leben. S.P.O.N. verklärte seine homosexuelle Affäre zur Befreiung vom angeblich falschen Bewußtsein, zu einer Befreiung aber, die von der Strafe nicht zu unterscheiden ist. Eine typische Ambivalenz revolutionären Denkens, die wir auch aus unserem kollektiven Schicksal nach 1945 kennen …

Marc wird von seinem Kollegen Kay zu mehreren intimen Begegnungen verführt, auf die sich Marc anfangs nur widerwillig einläßt. Von Liebe keine Spur. Auch sonst von nichts Verbindendem, das nicht mit Polizeisport (sie sind schließlich Kollegen) oder mit Sex zu tun hätte. Nach einiger Zeit fliegt die Sache natürlich auf, damit das Drama seinen Lauf nehmen kann. Marcs Frau Bettina, die soeben das gemeinsame Kind zur Welt gebracht hat, ist ebenso wütend wie verzweifelt. Hilflos sind sie leider alle beide und die Verwandten obendrein. Das Paar trennt sich, obwohl Marc das nicht will. Ein anderer Kollege, der sich gewöhnlich mit Macho-Sprüchen hervortut, hatte Marc inzwischen wegen seiner Affäre provoziert. Marc provozierte daraufhin den Kollegen und wurde von diesem zusammengeschlagen. Ein weiterer Kollege ging dazwischen und verhinderte Schlimmeres. Kay hat sich derweil aus dem Staub gemacht; als Marc ihn besuchen will, findet er eine leere Wohnung vor. Danach stürzt er sich in die schwule Szene, aber auch da hält ihn nichts.

Das ist also die Geschichte, die nach Meinung von S.P.O.N. Marcs Spießerdasein auf den Kopf stellt. Frau und Kind hat er verloren, und der Liebhaber ist über alle Berge. Am Ende sieht man ihn wieder beim Dauerlauf mit der Polizeisportgruppe, nur daß er diesmal stolzer und schneller ist als die anderen. »Jetzt hat er seinen Lebensweg gefunden«, soll uns das wohl sagen, aber dieser Weg führt ihn erkennbar nur in ein ungewolltes Singledasein. Sein Kraftzuwachs hat ihn nicht einmal dazu befähigt, sich gegen seinen prügelnden Kollegen zu wehren.

Man muß dem Film zugutehalten, daß er nichts beschönigt. Das Thema, so der Regisseur, war »Marcs Zerrissenheit zwischen zwei unvereinbaren Polen«. Die propagandistische Bemühung, die Probleme und Nachteile der homosexuellen Neigung  den gesellschaftichen Umständen unterzuschieben, ist nur als dünner Firnis zu erkennen. Der homosexuelle Impuls entfaltet eine deprimierend destruktive Wirkung, gegen die sich niemand zu schützen weiß. Ein Schicksal zum Fürchten. Hätte der Film nicht den Bonus der guten Absicht, würde der Regisseur nach den aktuell geltenden Maßstäben mit dem Vorwurf der Homophobie rechnen müssen. Der Redaktion von S.P.O.N. jedenfalls ist die Tristesse nicht entgangen, die im Falle eines »freien Falles« droht.

Lebensgefahr

»Kein größer Leid, als sich entschwundnen Glücks im Elend zu erinnern«, heißt es im fünften Gesang der Göttlichen Komödie. Wie so oft ist auch die Umkehrung richtig: »Kein größer Leid, als sich im Glück entschwundnen Elends zu erinnern«. Daher die verzweifelten Versuche, nicht nur dem kommendem Unglück zu widerstehen, sondern auch dem kommenden Glück. Dieses Glück kann eine Bedrohung sein. Kaspar Hausers Schicksal war schlimm, aber noch schlimmer war seine Befreiung, da erst sie ihm erhellte, was man ihm angetan. Das Glück von morgen enthüllt die Wahrheit über das Unglück von heute, und deshalb nehmen so viele Menschen es bereitwillig mit ins Grab – weil sie nicht wissen, ob sie stark genug sind, die Selbsterkenntnis zu ertragen und ihre Rettung zu überleben. Wenn Heinrichs eiserne Bande bersten, ist das vor allem ein gefährlicher Augenblick. Mindestens beginnt für ihn eine schwierige Zeit, in der sich alles neu ordnen muß.

Was will Akif Pirinçci?

Bereits am 27. März erscheint Aki Pirinçcis erstes Sachbuch Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer. Unmittelbar nach der Ankündigung stieg es bei amazon bis auf Verkaufsrang 4. Vor ein paar Tagen wurde ich gefragt, was Pirinçcis Motive seien. Das könnte auch diejenigen interessieren, die der Titel dieses Buches eher überrascht. Was also treibt ihn an? Eine gute Frage. Der erfolgreiche Krimiautor malt seit geraumer Zeit radikal freche, oft auch unflätige deutsche Stimmungsbilder. Seine große facebook-Gemeinde liebt ihn dafür. Besonders berühmt wurde im vergangenen Jahr sein auf der Achse des Guten erschienener Text »Das Schlachten hat begonnen«, der auch in seinem Deutschland-Buch enthalten sein wird. In Kirchweyhe war der junge Deutsche Daniel S. von mehreren türkischen Jugendlichen zu Tode geprügelt worden, und Pirinçci reagierte fassungslos auf die Tatsache, daß sich die Deutschen in einer zunehmend angespannten Konfliktsituation, die Todesopfer unter deutschen Jugendlichen fordert, erstens nicht zu wehren wissen und daß sie sich zweitens von ihren Politikern und Medienleuten des Rechtsradikalismus verdächtigen lassen müssen, was den offenkundigen Zweck hat, ihre Widerstandskraft auf einem lebensgefährlichen Minimum einzufrieren.

Die Frage, was Akif Pirinçci antreibt, hat es also in sich, denn sie berührt den Kern unseres Selbstverständnisses, sagen wir, als »Menschen in Deutschland«. Was bringt einen 1959 in Istanbul geborenen Mann, der mit neun Jahren nach Deutschland kam und hier ein erfolgreicher Schriftsteller wurde, dazu, den Deutschen vorzuwerfen, daß sie sich auf dekadente Weise von ihren ausländischen Gästen, seinen eigenen Landsleuten, tyrannisieren und terrorisieren ließen? Warum weist er sie mit aller Drastik darauf hin, daß sie, wenn sie so weitermachten, früher oder später einem unerbittlichen evolutionären Programm zum Opfer fallen würden, wonach die vielen jungen Männer aus dem zugezogenen Volk hinsichtlich ihrer Fortpflanzungschancen zu Konkurrenten, Gegnern und Feinden der autochthonen jungen deutschen Männer werden? Einem Programm, das junge, gut organisierte Türken dazu bringe, eben diese Deutschen, sobald sie irgendeine Schwäche erkennen lassen, zu bedrohen, zu verprügeln und zu ermorden. Was treibt ihn dazu, davor zu warnen, daß seine Landsleute früher oder später auch deutsche Frauen vergewaltigen, kurz, daß sie alles Mögliche tun werden, um die autochthone Bevölkerung eines Tages zu dominieren und zu beherrschen, jedenfalls dann, wenn sie niemand aufhält?

Pirinçci beschreibt eine kriegerische Situation. Er versteht weder die fehlende Bereitschaft zur Selbstverteidigung, noch die verlogene deutsche Öffentlichkeit mit ihrem heuchlerischen »Kampf gegen rechts«, noch die lasche, verängstigte Rechtsprechung, und am allerwenigsten versteht er den Verlust des gesunden Menschenverstandes in diesem täglich verrückter werdenden »war on sanitiy«. Der Autor Pirinçci ist ein Phänomen, das die Multikulti-Romantiker nicht auf der Rechnung hatten, denn Pirinçci ist Türke. Sein Zorn ist auf zuweilen respekt- und hemmungslose Weise frei von Selbstzweifeln. Es ist der Zorn eines Mannes, der, und das ist das Entscheidende, lange genug in Deutschland lebt, um sich noch an die Zeit erinnern zu können, da »Integration« kein milliardenteures Subventionsgrab zur Einschüchterung und Gängelung der einheimischen Bevölkerung war, sondern eine gesellschaftliche Realität, die keinen einzigen Cent kostete.

O-Ton Pirincci, aus seinem Anfang April erscheinenden Buch:

1969 sind meine Eltern mit uns Kindern und einem Pappkoffer in der Hand in dieses Land gekommen. Die Türkei bot uns nichts, keine Chance, keine erste und keine zweite, einfach gar nichts. Wir waren so arm, daß wir uns am Ende nicht einmal mehr Holz oder Kohle zum Heizen für den Winter leisten konnten. Wir empfanden es als ein unfaßbares Geschenk, daß Deutschland uns aufnahm. Hätte man uns gebeten, wir hätten ihm auf den Knien gedankt. Aber das tat man nicht. Man gab uns nur zu verstehen: Arbeitet, geht zur Schule, macht etwas aus eurem Leben, ihr seid uns nichts schuldig, außer vielleicht, daß ihr ein produktiver, kreativer und bereichernder Teil dieses Landes werdet und hier sogar Wurzeln schlagt, wenn es euch gefällt. Meine Eltern waren keinen einzigen Tag ihres deutschen Berufslebens arbeitslos; daß der Staat Sozialhilfe an Leute auszahlt, die einfach gar nichts tun, erfuhren sie erst Mitte der achtziger Jahre, als sie längst wieder in die Türkei zurückgekehrt waren und dort ihren Lebensabend genossen.

Soweit das aufschlußreiche Zitat aus dem zweiten Kapitel, das die Überschrift trägt: »Der Islam gehört zu Deutschland wie die Reeperbahn nach Mekka«. In diesen Tagen teilt die BZ übrigens mit, daß laut Berliner Senat 35.735 EU-Bürger allein in Berlin von Sozialhilfe leben. Dazu ein zweites Zitat aus Deutschland von Sinnen und zwar aus dem dritten Kapitel, in dem es um den Niedergang des Mittelstandes und um seine drückende Steuerlast geht:

Was die Rechtsprechung vor Gericht angeht, mein Freund, erzähl doch mal einem deutschen Richter, daß du 35 Jahre lang brav deine Steuern und Abgaben bezahlt hättest, daß diese sich inzwischen auf ungefähr 350 000 Euro summiert haben müßten, wenn nicht noch mehr, daß du arbeitslos geworden bist und in deinem Alter auch nicht mehr so leicht Arbeit findest, und daß du es mit Recht und Gesetz nicht vereinbaren könntest, deine noch nicht abbezahlte Eigentumswohnung verkaufen zu müssen, um auch nur einen müden Euro vom Staat zurückzubekommen, während dein Nachbar Einbezahlt-was-ist-das?-Abdullah aus Marokko und seine zwei Ehefrauen mit sechs Kindern sich von Stütze made in Germany schon ihr zweites Haus in ihrem wunderschönen Heimatland bauen. Daß der Richter dich dann nicht auslacht, ist auch alles! Oder erzähl doch mal dem Ordnungsamt, daß es etwas gegen die auf dem Schulweg deiner Tochter und im Stadtpark Spalier stehenden schwarzen Drogendealer unternehmen soll. Vielleicht hast du Glück. Dann bekommst du nur eine Geldstrafe wegen Rassismus, und die Psychopathen von der Antifa sehen davon ab, dein Auto abzufackeln.

Die politisch unkorrekten Positionen dieses Autors wird man über kurz oder lang, soweit es nicht schon geschieht, als »rechtsradikal« oder, um ein von einem bekannten Journalisten kürzlich verwendetes Wort zu zitieren, als »eklig« abtun wollen. Aber das ist ihm egal. Vor allem werden damit nicht die zugrunde liegenden Probleme erledigt. Man hätte bloß einmal mehr das Thermometer zerschlagen, das die wahre Temperatur anzeigt. Natürlich liegt es nahe, den politisch unkorrekten Positionen dieses Autors eine entsprechende politische Motivation zu unterstellen. Auch wenn das insbesondere jene tun werden, denen es nicht paßt, daß er so viele unangenehme Wahrheiten auf einmal ausspricht, wäre das bestenfalls ein Zirkelschluß. Was also treibt einen erfolgreichen Krimiautor wie Akif Pirinçci dazu, ein derart provozierendes Buch zu schreiben? Zunächst ist Pirinçci weder gegen die Türken noch gegen die Deutschen, er ist weder gegen die Ausländer, noch gegen die Einheimischen, und gegen Zuwanderung ist er natürlich auch nicht. Er ist nur dafür, daß jeder sein eigenes Geld verdient und der Staat dafür sorgt, daß sich die Leute nicht die Köpfe einschlagen. Das galt vor kurzem noch als selbstverständlich.

Die Antwort liefert die zitierte Passage über seine Kindheit, in der es um die Erinnerung an ein Deutschland geht, das Akif Pirinçci wie vermutlich sehr viele Türken seiner Generation tiefer beeindruckt haben könnte als seine damaligen deutschen Zeit- und Altersgenossen (soweit dieser Vergleich überhaupt möglich ist), und das es, so seine Sorge, womöglich bald nicht mehr gibt. Es geht um die Enttäuschung eines Türken darüber, daß die Deutschen nicht mehr sie selbst sein wollen und daß sie ihm (sie ihm!), dem Zugereisten, seine Heimat wegnehmen, daß sie ihn aus dem Land seiner Kindheit vertreiben. Ein Türke, deutscher als die Deutschen, will nicht zum Heimatvertriebenen werden.

Der Fall erinnert an die assimilierten deutschnationalen Berliner Juden in den Jahrzehnten vor dem Holocaust, die mit den nachrückenden Ostjuden nicht in einen Topf geworfen werden wollten. Ja klar, und nun, mit dieser unstatthaften Analogie, ist das Maß endgültig voll. Mir persönlich ist das aber genauso egal wie es Pirinçci egal ist, was man über ihn denkt. Unsere Politiker, unsere Tugendwächter und unsere Medienideologen werden sich daran gewöhnen müssen, daß die bundesdeutsche »Vielfalt« die eine oder andere Überraschung für sie bereithält, daß es Leute gibt, die nach Deutschland kommen und in Deutschland bleiben wollen, weil es sich um Deutschland handelt und nicht um Anatolien, Syrien oder um irgendein postmodern-namenlos-selbstvergessenes Territorium in Europa oder irgendwo sonst in der großen weiten Welt. Pirinçci ist der lebende Beweis dafür, daß es ein unverwechselbares türkisches Temperament gibt. Es könnte deutscher sein als das deutsche.