Kategorie-Archiv: Massendemokratie

Vom Leben mit dem dunklen Fleck

Kaum ist die beunruhigende Papstlosigkeit der Sedisvakanz überstanden, scheint es viele Journalisten sehr zu beunruhigen, dass es nun einen Papst gibt und nicht mehr keinen Papst. Kaum war der neue Papst gewählt, stand auch schon die Reinheit seiner Person in Frage. Als ob es eine Überraschung wäre, dass eine hochgestellte Persönlichkeit aus Argentinien auf ihrem sechsundsiebzig Jahre währenden Lebensweg möglicherweise nicht immerfort hat moralisch einwandfrei handeln können. Einen dunklen Fleck mag es ja geben, aber kaum wird auf ihn gezeigt, wird er auch schon so groß, dass der neue Papst dahinter zu verschwinden droht. Beides ist gefunden, der Papst und sein Fleck, und nun könnte es doch gut sein, denke ich mir, aber seltsamerweise lässt die öffentliche Aufgeregtheit, mit der schon die Sedisvakanz und das Konklave orchestriert wurden, immer noch nicht nach. Es geht bei dieser Aufgeregtheit auch gar um nicht um den Papst, sondern um die Fortsetzung der immerwährenden Unruhe, die nicht anders kann, als am Ende eines Konklaves sofort das nächste Konklave ins Auge zu fassen. In Gott sei das Heil nicht zu finden, heißt es, und so wird es überall gesucht und nirgendwo gefunden. Unerträglich muss der Gedanke sein, dass wir es bis auf weiteres mit einem Papst zu tun haben, der weder Gott ist noch Gott werden muss. Ich habe, wie gesagt, in den vergangenen Tagen einen anderen Weg ausprobiert. Als wir keinen Papst hatten, habe ich versucht, mich darauf zu konzentrieren, dass wir keinen Papst haben. Die vielen Kandidaten haben mich nicht sonderlich interessiert und das Konklave auch nicht. Als wir aber gestern Abend dann wieder einen Papst hatten, habe ich mich gefreut, dass die Tage ohne Papst zu Ende waren, und zwei Gläser Wein auf das Wohl des neuen Papstes getrunken. So kann das Leben schön sein, und ich empfehle diese Methode hier gerne weiter: Sich nicht ausreden, dass etwas fehlt, und sich freuen, wenn es da ist. Der Rest wird sich dann schon finden. Man kann diesen Trick auch ohne Sedisvakanz vielfach zur Anwendung bringen, denn irgendwas fehlt ja immer.

Schlappe Schleife. Die neue Bildmarke von McFit

Die Firma McFit hat ein Problem. Das zeigt die neue Bildmarke, die sich McFit zugelegt hat.
Sie verrät uns mehr, als dem Unternehmen lieb sein dürfte.

McFit betreibt mit über 170 Sportstudios und über einer Million Mitgliedern die größte Sportstudiokette Europas. Eine Million zahlender Mitglieder – das ist viel. Ich muss bei dieser Größenordnung an den Deutschen Flottenverein denken, hinter dem eine ganze Volksbewegung stand. Auch McFit hat eine Affinität zu Volksbewegungen: Leibesübungen für alle und rund um die Uhr. Sport ohne Wellness, für knapp zwanzig Euro im Monat. Duschen kostet extra. Das ist ein klares, minimalistisches Konzept. Die Aufbaujahre waren trotzdem hart. McFit ist mit viel Arbeit und Diskretion großgeworden. Als es geschafft war, wollte sich Unternehmensgründer Rainer Schaller mit einem Ausflug in den neuen Geschäftszweig Massentrance belohnen.

Dieser Ausflug, der mit dem Kauf der Markenrechte an der Loveparade begann, endete im Jahre 2010 mit der Katastrophe von Duisburg. Auch für Schaller war das sicher ein schwer zu verkraftender Schicksalsschlag. Seitdem ist sein Gesicht aus der Unternehmenswerbung verschwunden. Bis heute wird aber noch der letzte Winkel eines Studios mehr oder weniger laut beschallt. Und  dann die Videos. Mitschnitte von selbstmörderischen Luftübungen im Hochgebirge oder direkt unter den Wolken flimmern Tag und Nacht als Endlosschleifen über alle Bildschirme.

Die Unternehmensführung verbindet ganz selbstverständlich sportliche Betätigung mit optisch-akustischer Gehirnwäsche. Und nun die neue Bildmarke. Um zu zeigen, in welcher Liga McFit mitspielen könnte, sei hier an bekannte Signets wie die Muschel des Ölkonzerns Shell oder den eleganten Kranich der Lufthansa erinnert (wobei »Lufthansa« im Unterschied zu »McFit« auch ein sehr schöner Name ist; Luft-Hansa und nicht Luf-thansa). Was hat sich McFit ausgedacht? Eine breite, gelbe Schleife auf anthrazitfarbenem Grund. Ich dacht’, ich seh’ nicht recht.

In der Außenwerbung wirkt dieses Schleifchen auf den großen, grauen Fläche sehr verloren. Zweitens erinnert es an die rote Aids-Schleife. Auch das Dienstabzeichen eines Hauptfeldwebels der Bundeswehr mag sich von ferne zu erkennnen geben. Im Unterschied zu diesen beiden Zeichen wurde die McFit-Schleife um einhundertachtzig Grad gedreht. Darüber hinaus ist der rechte Bandzipfel deutlich länger geraten als der linke, aber keiner von beiden zeigt nach oben. Vielmehr wurden beide Enden nach unten abgeknickt. Aufmerksame Leser dieses Logbuchs werden wissen, dass ich Richtungsweisungen für sehr bedeutsam halte. Der Pfeilcharakter des ziemlich lang und breit geratenen rechten Bandendes dominiert die neue Bildmarke sogar.

130313 mcfit logoMcFit? Die haben doch dieses Kreuz mit zwei Pfeilen. Mit einem großen Pfeil nach rechts unten. Ungefähr Südsüdost. Rechts! Wie konnte das passieren? Ich war entsetzt, aber nicht von dem »rechten« Pfeil und auch nicht von dem zu befürchtenden Missbrauch durch allerletzte Pfeilkreuzler, sondern von der Leere des Ganzen. Der Schleife fehlt jede einladende, anspornende oder aufbauende Geste. Sie hat überhaupt keinen Bezug zur Sache. Dieses dämliche Schleifchen wäre für einen Bleistift eine Beleidigung gewesen, und für einen Teebeutel erst recht. Das muss Absicht sein, dachte ich spontan.

130313 AnhängerSo war’s auch. Die freundliche Trainerin erklärte mir: Soweit sie wisse, habe man ein Logo schaffen wollen, das den Betrachter so wie wenig wie möglich einenge oder festlege. Ein Logo, bei dem jeder sich denken könne, was er wolle. Aha. Ich hätte mit Bleistift und Teebeutel vollkommen richtig gelegen. Alles wäre richtig gewesen. McFit, dachte ich, will also niemanden diskriminieren. Und weil McFit niemanden diskriminieren will, dürfen nicht einmal mehr bewegungslustige Kunden als bewegungslustige Kunden angesprochen werden. Das ist aber noch nicht alles.

130313 PfeilkreuzlerWie lautet die Standardantwort auf eine beliebige Beschwerde gegenüber einer beliebigen Kassiererin? »Dafür kann ich nichts.« – Nee, ist schon klar, so war’s ja auch nicht gemeint. Nun auch McFit. McFit ist jetzt auch mal weg. Das sagt die neue Bildmarke. Ihre Aufgabe ist es gerade nicht, bereits gewonnene Kunden anzusprechen, geschweige denn potentielle Kunden zu umwerben und zur Mitgliedschaft zu überreden. Ihre Aufgabe ist es, nicht anzusprechen und nicht zu werben. Ihre Aufgabe ist die Verweigerung von Kontakt, Gespräch und Beziehung. Zur neuen Bildmarke gibt es eine Instagramm-Kampagne unter dem Namen #DERWILLEINDIR mit Sprüchen wie: »Werde Teil von etwas Großem: Dir selbst«. McFit macht Fortbildung in Sachen Narzissmus und gibt den Spiegel gratis. Man kann jederzeit trainieren, aber die Firma hat nichts damit zu tun. Sie macht ein absichtsloses Gesicht, das da sagt: Heute gibt’s ich weiß nicht was und morgen noch viel weniger. Werde Teil von etwas Großem und koch Dir Deine Suppe selber. McFit ist keine Suppenküche, aber das ist kein Grund, das eigene Angebot symbolisch zu sabotieren. Wenn das passiert, stimmt irgendetwas nicht.

Jede bestimmte Ansprache würde eine bestimmte andere Ansprache ausschließen. Jede Ansprache würde einen Unterschied machen. Sie würde diskriminieren. Aber auch eine Aussage, die mit Aussageverweigerung einhergeht, bleibt zwangsläufig eine Aussage. In diesem Fall wurden zwei Spitzen, die nach oben hätten zeigen können, umgebogen. Oder sie hingen von vornherein dumm in der Gegend herum, weil etwas Besseres als eine schlappe Schleife oder ein Stück Designerblech gerade nicht zur Hand war. Die Mitteilung sollte schwächen, nicht stärken. Der Betrachter sollte sich weder ermutigt noch angespornt fühlen. Die Mitteilung heißt Demütigung und Depotenzierung, Unsportlichkeit und Unmännlichkeit. Männlichkeit wäre Diskriminierung von Frauen. Das geht natürlich nicht, also muss das Bandende runterhängen. Aber warum musste es überhaupt ein Bandende sein? Ein dunkler Durchblick in der Mitte wurde doch auch peinlichst vermieden.

Mein Blick wandert zu den Sprüchen der Instagramm-Kampagne weiter. Dort sehe ich eine weiße Schrift auf ebenfalls anthrazitfarbenem Grund. Mich erinnert helle Schrift auf dunklem Grund an Grabplatten. Das ist keine schöne Assoziation, aber oft die richtige. Bei Wikipedia gibt es von Rainer Schaller ein Foto, das ihn mit schwarzem Hemd und schwarzem Sakko zeigt. Schwarze Hemden wecken bei mir ähnliche Assoziationen wie invertierte Schriften. Schwarze Hemden können ansonsten auf Priestertum und auch auf Faschismus verweisen. Viele Leute, die schwarze Kleider tragen, zeigen einfach Trauer. Dass sie trauern und worum sie trauern, wissen sie oft selbst nicht.

Ich fasse zusammen: McFits Ansprache an eine Million Mitglieder besteht (neben gewiss vielen praktischen Tipps und freundlichen Trainern) aus Trauerkleidung, Grabsteinschrift, Inklusion der Kunden in sich selbst, aus Dauerfilmen mit selbstmörderischen Leibesübungen und allem voran aus einer kontaktverweigernden Bildmarke, die irgendeine diffuse, den Betrachter depotenzierende Auskunft erteilt. Die ihn in die Wüste schickt. Das maßgebliche Motiv war Antidiskriminierung. Herausgekommen ist eine Verleugnung der eigenen Kundschaft. Das maßgebliche Motiv war ferner Anpassung an den Zeitgeist. Herausgekommen ist ein »rechtes« Symbol.

Psychologisch gesprochen wird die eigene Kundschaft mit der neuen Bildmarke aus dem Blick genommen. Sie wird weggeschoben, sie wird ver-rückt. Deshalb ist es nicht übertrieben, die Verleugnung der eigenen Kundschaft als verrückt zu bezeichnen. Wir haben es mit einem Sprecher zu tun, der sich sein Gegenüber einfach wegdenkt. Das ist kein Einzelfall einer Krankheit, sondern ein Einzelfall ihrer epidemischen Ausbreitung. Diese Krankheit heißt Zeitgeist. Sie wird gewollt, und zwar bei vollem Bewusstsein.

Auch auf einem Plakat der Berliner AOK mit dem Motto »Wir sollen Sie so, wie Sie sind« guckt die Mehrzahl der sehr intim zusammenstehenden Personen, von denen man nicht weiß, ob sie einander Freunde, Familie oder Liebhaber sind, fest aneinander vorbei. Will die AOK, dass wir aneinander vorbeigucken? Es gibt ja auch Leute, die krank werden wollen. Es gibt Leute, die sich gern künstliche Probleme machen, und es gibt Leute, die den Mund nicht aufkriegen, wenn sie in der U-Bahn zuwenig Platz haben. McFit opfert dem Zeitgeist mit vorauseilendem Gehorsam seine Kundschaft. Und genau das sagt ihr die Firma etwas wehmütig, aber ziemlich offen ins Gesicht: »Seid, wie Ihr seid. Aber ob wir Euch dann noch wollen dürfen, wissen wir zur Zeit nicht so genau.«

Tage ohne Papst II

Seltsam, dass es so viele Vatikangegner gibt, die die Sedisvakanz derart in Unruhe versetzt, dass sie tagelang nur über dass Konklave reden können. Um es auch nicht einen einzigen Tag ohne Papst aushalten zu müssen, werden unentwegt Anforderungsprofile aufgestellt und wieder verworfen. Sagenhaft! Wir aber wollen uns hier nicht mit der Papstwahl beschäftigen, sondern mit der Sedisvakanz. Warum mit aller Kraft darüber hinwegreden, dass wir dieser Tage keinen Papst haben? Warum sich nicht auf das konzentrieren, was der Fall ist? Der nächste Papst wird sich schon zu erkennen geben, wenn es soweit ist. – Heute antworte ich auf den Kommentar eines Freundes zu den gestrigen Abdankungs- und Rücktrittsbetrachtungen in »Tage ohne Papst I«.

Kommentar:

Ich habe den Eindruck, dass es sich um wachsende Formlosigkeit handelt – oder besser gesagt, um wachsendes ›Formunvermögen‹. Sind wir inzwischen so kleine »letzte« und auf unser Ich zurückgeworfene Menschen, dass uns alle überpersonellen repräsentativen Formen hoffnungslos zu groß werden?

Meine Antwort:

Ja, ich fürchte, so ist es. Schlimmer noch: Das Leben selbst wird uns »zu groß«. Aber vielleicht sind nicht nur wir das Problem. Vielleicht ist es auch »die Welt«. Anders gesagt, »zu groß« wird die Differenz zwischen Amt und Person, zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zu groß wird die Differenz zwischen der wirklichen und der utopischen Welt, seit alle Verheißungen des Jenseits hier und jetzt im Diesseits realisiert werden müssen. Sogar der Vatikan scheint an weltfremden Reinheits- und Unschuldsforderungen nicht mehr vorbeizukommen, wenn eine über dreißig Jahre alte Unbeherrschtheit genügt, um aus dem Amt gefegt zu werden.

Jene Differenz hat es natürlich immer gegeben, aber früher, zu Zeiten eines hierarchischen Weltbildes, war sie selbstverständlich. Die Entfremdung war selbstverständlich. Da durfte es in der Welt und auch im Einzelnen ein »Oben und Unten« geben, ein »Außen und Innen«. Heute sollen jegliche Unterschiede und Grenzen verschwinden. Auf diesem Weg lassen die Spannungen im Individuum aber keineswegs nach. Im Gegenteil, sie steigen sogar an. Jeder soll in sich selbst diese ansteigenden Spannungen auch noch zum Ausgleich bringen können. Wer das nicht schafft, wirkt rückwärtsgewandt oder altmodisch, denn am Kreuzungspunkt von Emanzipationsversprechen und Transparenzforderung gibt es das Problem ja eigentlich gar nicht. Der neue Wunderglaube sagt: »Wer ehrlich mit sich und den anderen wäre, der würde zur Klage keinen Grund haben.« So funktioniert der Mensch aber nicht. Da ist eine neue Grausamkeit am Werke, die dem Einzelnen keinen Rückzugsraum lässt, nirgends.

Früher gab es viel mehr Mittel und Wege, Differenzen zu verbergen, zu überspielen, ihnen auszuweichen, sie zu überformen oder zu unterlaufen. Wenn Kaiser Wilhelm II. auf Nordlandfahrt ging, war er vier Wochen lang sehr weit weg und nur per Postboot oder Telegrafie erreichbar. Für heutige Begriffe war er gar nicht erreichbar. Ein Papst  konnte im 19. Jahrhundert noch beinahe wie ein Privatmann durch Rom spazieren. Heute, wo ihn die ganze Welt kennt, lastet auch ihr ganzes Gewicht auf ihm. Milliarden von Menschen verfolgen seine Worte und Wege. Dabei hilft ihnen eine abbruchsüchtige Journaille, die obendrein Krokodilstränen weint (»Respekt!«), sobald sie ein weiteres Opfer an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Selbst in den sechziger Jahren konnte ein Kanzler oder Bundespräsident noch sagen: »Um  zehn Uhr abends ist Schluss, aus, Feierabend! Da gehe ich ins Bett, Protokoll hin oder her!« So ein Politiker kam natürlich viel besser durchs Leben als jemand, der sich das mörderische Programm einer Angela Merkel aufhalst.

Es gab Mittel und Wege, die nach und nach abgeschafft und verbaut wurden. Heute kann man der Entfremdung im Amt und durch das Amt desto weniger ausweichen, je höher die unerfüllbaren Ansprüche steigen. Je mehr die Kontrollmöglichkeiten, die Rücksichtsforderungen der politischen Korrektheit und die allseitigen materiellen Erwartungen ausgebaut werden. Da darf man sich nicht wundern, dass die Amtsträger anfangen zu implodieren. Wer niemandem weh tun darf, muss wenigstens schweigen. Er muss innerlich verschwinden. Bundespräsident Gauck hat offenbar schon beschlossen, bald gar nichts mehr zu sagen. Die Ferndiagnose lautet »Depression«. Die stählerne Glätte und Makellosigkeit, die man als hoher Repräsentant heute braucht, um notfalls dem geballten Investigationspotential der Weltmedien standzuhalten, diese Perfektion gibt es überhaupt nicht, bei niemandem. Selbst Heilige waren vermutlich nicht rund um die Uhr heilig. Ohne Differenz gibt es keine Repräsentation. Ohne Differenz kann jeder nur sich selber repräsentieren. Und wir wundern uns, dass das Unbehagen wächst und wächst? Dass höchste Würdenträger anfangen zu kapitulieren?

Der Streit um das Kind. Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 8

Zwei Frauen, die unter einem Dach wohnen, sind fast gleichzeitg Mütter geworden. Eines der beiden Kinder stirbt. Daraufhin streiten sie sich um das verbliebene Kind, denn die eine Mutter hat ihr totes Kind mit dem lebendigen Kind der anderen Mutter vertauscht. Sie streiten sich sogar vor dem König, wem das lebendige Kind gehöre. Der König befiehlt: »Bringt mir ein Schwert. Haut das Kind in zwei Teile und gebt die eine Hälfte der einen und die andere Hälfte der anderen.« Die wahre Mutter will lieber auf das Kind verzichten und es der anderen überlassen, als es sterben zu sehen. Die falsche Mutter sagt: »Es gehöre weder mir noch dir, sondern es werde geteilt.« Der König sagt: »Gebt jener das Kind und tötet es nicht, denn sie ist seine Mutter!«

Ist zu teilen nicht gerechter, als nicht zu teilen? Nein, das weise Urteil König Salomos ist gerecht, weil mit der Tötung des verbliebenen Kindes die irdische Gerechtigkeit für dieses Mal aufhören würde. Auch die irdische Freiheit hört mit dem Tod auf, weshalb der »freie« Tod keine Realisierung von Freiheit sein kann. Die obige Geschichte lehrt auch dies: Je lauter und je häufiger die Forderung nach »Gerechtigkeit« erhoben wird, desto mehr Neid könnte im Spiel sein. Ich habe auf diese Gefahr bereits im Zusammenhang eines Adoptionsrechtes »für« (!) gleichgeschlechtliche Paare hingewiesen, denn ein solches Recht würde bedeuten, das Vermittlungswesen am Wohl künftiger Adoptiveltern auszurichten und nicht am maximalen Wohl des Adoptivkindes.

Die Motive, die den aktuellen Umbau vorantreiben, werden nur im Rahmen des großen Trends zur Trennung von Sexualität und Fortpflanzung verständlich. Warum natürlich tun, was man für viel Geld und mit viel Verwaltungsaufwand auch künstlich tun kann? Warum rechtzeitig natürlich befruchten, wenn es künstlich auch später noch geht? Gleichgeschlechtliche Paare erfinden plötzlich ein »Recht auf Kinder«, das es bislang für niemanden gab, das aber in Zeiten steigender Rentenempfänger und sinkender Renten eine bessere Altersversorgung versprechen könnte. Schließlich geht mit dem Erbanspruch eines Adoptivkindes auch eine Fürsorgepflicht zum Wohle der Adoptiveltern einher.

Natürliche Zeugung, Kindesaufzucht durch eigene Mütter oder die Pflege kranker und alter Familienangehöriger bringen dem Staat kurzfristig kein Geld ein, weil sie kein Geld kosten und  keine Steuern generieren. Sie »kosten« den Staat vielmehr jene Steuern, die ihm mangels Einnahmen (Lohn oder Gehalt) und mangels Ausgaben (Einkauf teurer Leistungen) entgehen. Für die Staatskasse wäre es besser, Angehörige würden arbeiten gehen und ihre Dienstleistung einkaufen. Ein gesundes Familienleben schmälert das Bruttosozialprodukt, es ist Steuerhinterziehung! Auf einmal scheint die natürliche, kostenlose Sorge das Gemeinwesen zu schädigen, statt dass sie es erhalten würde. Der finanziell überforderte Sozialstaat bedroht am Ende die tätige Liebe. Eine immer materialistischere Weltsicht bemächtigt sich der Fragen von Leben und Tod. Das wäre ein Thema für Die Linke und für Die Grünen.

In dem Sterbehilfe-Buch von Axel Bauer und mir heißt es in meinem Beitrag Wir sollen sterben wollen auf Seite 63: »Bevor unsere kurzatmige, neue Welt nichts kostet und also auch nichts einbringt, soll sie lieber noch kurzatmiger werden. Das erinnert an das russische Märchen, in welchem die Fee einem Bauern einen Wunsch erfüllen möchte – mit der einzigen Bedingung, dass dieser Wunsch seinem Nachbarn doppelt erfüllt werde. Der Bauer überlegt und sagt: ›Stich mir ein Auge aus.‹ Wir aber, die wir nach Sterbehilfe verlangen, antworten der Fee: ›Stich mir ins Herz‹, damit auch die Frau des Nachbarn ins Grab sinke.«

Die Tatsache, dass ich dem anderen »erlaube zu gehen, wann er will«, erleichtert mich um meine eigene Lebens-und Todesangst, weil ich nun weiß, dass auch ich »gehen darf, wann ich will«. Zu meiner eigenen Beruhigung schicke ich den anderen vor. Das erklärt, warum so viele Leute das Recht auf Sterbehilfe nicht für sich, sondern ganz selbstlos »nur für die anderen« fordern. Die obige Geschichte aus dem Alten Testament wirft ein ähnlich beunruhigendes Licht auf das Abtreibungsproblem. Warum erwartet unser Zeitgeist von Frauen, die aus welchen Gründen auch immer abgetrieben haben, dass sie ganz allgemein »für Abtreibung« sind? Wie kann man überhaupt »für Abtreibung« als alltägliche, jederzeit verfügbare »Problemlösung« sein? Wie konnte aus einer Ausnahme die Regel werden?

Pro Jahr kommt es in Deutschland zu rund 100.000 Abtreibungen. Im Adoptionswesen würde ein quotierter Anteil für gleichgeschlechtliche Paare bei rund 200 Kindern pro Jahr liegen (4.060 Adoptionen gab es im Jahre 2011 insgesamt!). Ein derart lärmender Streit um 200 Kinder, während die fünfhundertfache Zahl von Kindern mit wachsender Selbstverständlichkeit abgetrieben wird? Wir leben wahrlich in seltsamen Verhältnissen. Um auf die verborgene Analogie von Abtreibung und Sterbehilfe hinzuweisen: Welche Frauen beruhigt es in ihrer eigenen Not, wenn sie wissen, dass auch andere abtreiben? Dass sie, wenn andere auch künftig abtreiben, mit ihrer eigenen Abtreibung niemals allein sein werden? Damit kommen wir zurück zu den streitenden Frauen und König Salomo. Dort erträgt es die kinderlose Mutter in ihrer Trauer nicht, dass ihre Nebenfrau ihr Kind noch hat. Der Streit gipfelt darin, dass sie wünscht, dass König Salomo das Kind der anderen töten lasse und lieber keine von beiden ein Kind habe. Auch der böse Geist des russischen Bauern ist in der Geschichte aus dem 3. Buch der Könige mit enthalten. Wer aber fällt heute oder morgen Salomos weises Urteil?

Der Preis der Quote

Nachtrag zum nachfolgenden Nachtrag

Die Quote hat eine schwere, meist übersehene Nebenwirkung. Diejenigen, die von ihr profitieren, werden nur auf den ersten Blick »gleichgestellt«. Auf den zweiten Blick vertieft und verfestigt die Quote die jeweilige Gruppenzugehörigkeit, denn allein auf sie gründet sich ja der mittels Quote realisierte Anspruch. Die Quote fördert oberflächlich die Gleichheit, in Wahrheit die Ungleichheit. Und übrigens auch die Ungerechtigkeit, denn es ist ungerecht, Ungleiches gleich zu behandeln.

Es geht ums Ganze

130308 shutterstock WAAGE klein2Nachtrag zu meinem Beitrag »Über die Verwechslung von Innen und Außen« vom 1. März 2013

Im Nachgang zu meinem Beitrag über Homosexualität und Erpressbarkeit schließe ich mich gern Josef Bordat an, der hier und noch grundsätzlicher hier zum Thema Homosexualität Stellung genommen hat. Ich bin ähnlich wie Bordat der Ansicht, dass die Emanzipation mit einer gesteigerten Festlegung und Reduktion auf Homosexualität einhergeht. Ich meine, dass man »emanzipierte« Homosexuelle in Wahrheit in das Gefängnis ihrer »sexuellen Identität« sperrt, so gut sich das für viele – wenigstens vorübergehend – auch anfühlen mag. Anders gesagt, die respektheischende sexuelle »Besonderheitsidentität« (Odo Marquard) geht zwar mit dem Versprechen einer Art Würde einher, aber diese »Besonderheitswürde« ist um einiges beschränkter (auf sexuelles Sosein) und fragiler (abhänig von menschlichen und gesellschaftlichen Launen) als jene unbedingte und von jeglichen Eigenschaften unabhängige Menschenwürde, die wir traditionellerweise der »Allgemeinheitsidentität« (Odo Marquard) verdanken.

Damit man diesen Unterschied wahrnehmen kann, muss, wie Bordat sagt, »das Wesen des Menschen als eine Seinsqualität angenommen werden, die unabhängig von dem ist, was er tut oder sagt oder denkt. Darin leuchtet die unbedingte Würde des Menschen auf, die ebenso schöpfungstheologisch begründet ist, als eine von Gott gestiftete ›Fremdwürde‹. Hier schließt sich der Kreis von Schöpfung, Wesen und Würde und man erkennt eine Ordnung. Es steht viel auf dem Spiel (nämlich das Wesen des Menschen und seine Würde), wenn wir diese Schöpfungsordnung ad acta legen oder versuchen, sie nach Gutdünken auszuschlachten, um das herauszupicken, was heute gerade noch nützlich scheint. So geht das nicht, denn es geht ums Ganze: Wenn Sexualität für den Menschen wesentlich ist (und das ist sie), dann darf sie das Wesen des Menschen nicht verfehlen.«

Ich füge nur noch hinzu, dass man nicht katholisch sein muss, um sich mit dem von Bordat formulierten Grundgedanken anfreunden zu können.

»Ich bin ein Meteor.« Neues aus dem Fundbüro Nr. 1

»Ich spreche dem Individuum das Recht ab, in eigener Sache Richter und Partei zu sein. Der Teufel, der Stolz, die uns eingepfropfte Leidenschaft sind rasch bei der Hand, uns Vorwände und Entschuldigungen einzuflüstern.«  Paul Claudel

Die Gegenwart hat uns zweifellos von vielen Entbehrungen und Konventionen früherer Zeiten befreit: »Sie fördert entschieden die Impulsivität, und wir erfreuen uns der ›negativen Freiheit‹ gegenüber einer Vielzahl von zuvor eingeschränkten Aktivitäten. Die Kehrseite [...] ist jedoch der Anstieg der Kriminalität, des Drogenkonsums, unsozialen Verhaltens und die zunehmende Zerrüttung des Familienlebens. Als demokratisch verfaßt reagiert die moderne Welt positiv auf das, was wir wollen, und was wir wollen, ist nicht immer gut für uns.«  Kenneth Minogue

Die gemeinschaftlichen Träger fallen immer mehr weg: »Man versucht also, soweit als möglich jedem Einzelbewußtsein das Ganze aufzulasten, soviel wie möglich in den schmalen Lebensraum des Einzelnen einzupressen. Da dies nicht geht, verflüchtigt sich der Inhalt ins Abstrakte und Theoretische, das unser Leben nicht mehr berührt, geschweige denn formt; praktisch wird wahllos genippt, genascht, ausprobiert, mitgeschleppt. Daher rührt die immer mehr spürbare Flachheit, Dünne und Angestrengtheit [...], das beängstigende Übergewicht von Programm und Forderung.«  Hans Urs von Balthasar

»Zum Abgleiten in die Servilität gehört auch die Trivialisierung eines guten Teils des modernen Lebens.«  Kenneth Minogue

»Das vereinzelte In-der-Welt-Sein wird wild und führt seine Wildheit vor. – Existenz und Moral tretren auseinander, der Wille zum Gutsein erscheint dem wilden Selbst wie eine schale Maske, eine ekelhafte Gemütlichkeit. Durch den Mund zahlloser Individuen verkündet das Dasein: ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit; ich bin kein Staatsbürger, ich bin Müll; ich bin kein Subjekt, ich bin eine begehrende Maschine; ich habe keine Mitmenschen, ich bin ein Meteor. Ein neuheidnischer Verzeiflungsstolz findet zu seiner Sprache und verspottet die Tröstungen der metaphysischen Traditionen.«  Peter Sloterdijk