Kategorie-Archiv: Bioethik

Über die Verwechslung von Fremdem und Eigenem

130302 shutterstock_129669434 kleinEin Adoptionsrecht »für« gleichgeschlechtliche Paare verspricht, ein scheinbar unvermeidliches Defizit ausgleichen zu können. Aber woher kommt der Ausgleich? Von verschiedengeschlechtlichen Eltern, die selbstgezeugte Kinder haben und sie zur Adoption freigeben. 2011 wurden in Deutschland nur 4.060 Adoptivkinder vermittelt. Auf ein Adoptivkind kommen zehn Bewerber. Wir haben keinen Mangel an »Eltern«, sondern an Kindern. Eine Homosexuellenquote im Adoptionsrecht (darum geht es doch wohl – um Zuteilung unabhängig von Eignung) würde pro Jahr schätzungsweise 200 gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern versorgen. Tendenz fallend, weil die Zahl der Adoptionen seit 20 Jahren fällt. Und dafür der ganze Aufwand?

Schauen wir nach Wien. Dort kümmert sich die Grundrechteagentur der EU nicht nur um Homosexuellen-, sondern auch um Kinderrechte. Je mehr Schutz von Kinderrechten, desto mehr Kindesentzug im Falle »ungeeigneter« Eltern. So könnte die Adoptionsrate steigen, während die Geburtenrate weiter fällt. Der Staat verspricht alles Mögliche, was ihm nicht gehört, warum nicht auch Kinder? Die Umverteilung zu Lasten Dritter funktioniert im Namen der Gerechtigkeit wie ein Naturgesetz. Neu wäre nur seine Anwendung auf knappes Humankapital. Jeglicher Widerstand kann als »Homophobie« kampflos besiegt werden.

Wovon sprach die CSU dieser Tage, als sie von der Weitergabe des Lebens hätte sprechen müssen? Vom »Leben mit Kindern«. Da haben wir ihn, wo wir ihn am wenigsten vermuteten, den vorauseilenden Abschied vom genealogischen Prinzip.

Hybridgattung. Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 7

I.

Im ersten Nachtrag zur Sterbehilfe vom 9. Januar habe ich geschrieben, dass sie für Arm und Reich attraktiv sei. Das ist in der Tat ein wichtiges Merkmal, denn es macht die Sterbehilfe zugleich attraktiv für die Gerechten unserer Tage. Auch die Homosexualität scheint in weiten Kreisen unter anderem deshalb so beliebt zu sein, weil sie gegen alle Hierarchien und sonstigen Unterschiede indifferent ist. Mindestens schützt sie weitgehend vor dem Vergewaltigungsvorwurf und – so paradox das klingt – sogar vor Abtreibung, insofern es gar nicht erst zur Zeugung kommt. »Beliebt« heißt in diesem Fall, dass die Befürworter der Homosexualität nicht homosexuell sein müssen. Vielleicht sind es Feministen, die da finden, dass die Männer ihre Sexualität unter sich ausmachen sollten (»Boygroup« heißt die enstprechende Kondomwerbung). Vielleicht sind es Männer, denen die Homosexualität der anderen die Konkurrenz um die Frauen erleichtert … Aber wir kommen vom Thema ab.

Zu den sinnfälligsten Kennzeichen der Massendemokratie gehören offenbar Phänomene, die von öffentlich propagierten und geförderten Impulshandlungen leben: Vögeln und Sterben, jetzt und sofort. Selbsteinschläferung und Homosexualität scheinen eine gleichheitssüchtige Gesellschaft der Verwirklichung ihrer Zeile ein wenig näher zu bringen. Im freiwilligen Suizid scheinen Herr und Knecht wirklich versöhnt zu werden. Das ist die gnostische Dimension der Sterbehilfe, mit der der neue, freilich tote Mensch die Ungleichheit an sich selbst und in sich selbst zum Ausgleich bringt. Er gibt den anderen ein Beispiel, dass ihm und ihnen die anstrengende fürsorgliche Pflege (Ungleichheit!) erspart. Sterbehilfe macht als radikal verwirklichte Gleichheit Konjunktur. Das Wasser muss auch bergauf fließen können (Kenneth Minogue).

II.

Die Sterbehilfe versöhnt den Hedonismus mit dem disziplinären Konformismus, was schon für Tocqueville die Pole der demokratischen Grundspannung waren (bei ihm hieß sie »Gleichheit und Despotismus«. Manche glauben doch tatsächlich, dieses Problem gäbe es heute nur in China.) »Hedonismus« bedeutet Reduktion auf niedrigste Triebe und Impulse. »Disziplinärer Konformismus« bedeutet Herrschaft der global ausufernden Hypermoral (Politische Korrektheit). Der Hedonismus unterfordert uns, der Konformismus überfordert uns. Zwischen beiden Kräften entsteht ein Vakuum, das nur durch ständiges Pendeln zwischen der einen und der anderen Daseinsform als unbeträchtlich erlebt werden kann. Beide Daseinsformen münden oft in dieselbe Suchtstruktur, weil die wirkliche Erfüllung ausbleibt. Die Übermutter Wohlfahrtsstaat produziert Sklaven in Form von Süchtigen, die als Eiferer auftreten und die Welt retten wollen, Pendler zwischen Anspruch und Abhängigkeit, zwischen NGO und Swingerclub.

Gehlens Hypermoral finden wir weiterentwickelt zur Hysterisierungsmoral: »Suchtmensch und Spätkultur«. Jetzt darf jeder sich einbilden (ganz gleich, ob Wähler oder Politiker), über sich selbst zu herrschen. Noch einmal Kenneth Minogue: »Jeder Mensch [wird] so sein eigener Phantasie-Despot, der über andere und deren Ressourcen nach Gutdünken verfügt.« (Die demokratische Sklavenmentalität, S. 286) Alle Außenhalte werden abgeräumt, weil sie einerseits zuviel Autorität und Hierarchie beanspruchen und andererseits zuviel Disziplin, Geduld und Gehorsam erfordern. Auch die Hilfsbereitschaft wird fragwürdig. Schenken ist ungerecht! Man wird kalt, darf sich aber als das Exemplar einer neuen Hybridgattung aus Sklave und Übermensch fühlen. »Regulierte Selbstregulierung« heißt das in der Verwaltungssprache. Der Preis: Die früher äußerlichen Unterschiede werden als innere Spannungen wahrhaft unerträglich. Das vermeintlich rettende Angebot gibt es natürlich auch schon. Es heißt Sterbehilfe.

Inklusion oder Tod

Jerzy Montag, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, ist ein Befürworter der Sterbehilfe. Er schränkt ein: sofern die Entscheidung für den Tod »autonom« getroffen wird (wie auch immer man das macht). Und dann ist derselbe Abgeordnete – neben Christian Ströbele – ein Gegner des Inzestverbots. Klar: Die sexuelle Befreiung, das Recht auf Abtreibung und schließlich das Recht auf Sterbehilfe bilden einen nimmersatten Dreiklang. Jeder dieser drei Punkte wird im Allgemeinen aber nur für sich diskutiert. Die Zusammenschau fällt aus, während der schier unüberbietbare Vorteil gerade in der Kombination liegt, indem etwa Nr. 2 und Nr. 3 dabei helfen, die peinlichen Folgen von Nr. 1 zu beseitigen. Nur weil es Nr. 2 und Nr. 3 gibt, kann man Nr. 1 immer hemmungsloser vorantreiben. Mit Nr. 3 kann man darüber hinaus die demographischen Folgen von Nr. 2 beantworten, obwohl Nr. 3 in gewisser Weise noch schlimmer ist als Nr. 2 …

Wir erinnern uns an das Geschwisterpaar aus Zwenkau bei Leipzig, das vier gemeinsame Kinder gezeugt hat und für seine verbotene Liebe von der Wochenzeitung Die Zeit im Jahre 2004 überaus einfühlsam und verständnisvoll porträtiert wurde. Zwei der vier Kinder sind mehrfach behindert und waren damals in ihrer Entwicklung deutlich zurückgeblieben. Aber das macht nichts, denn für Behinderte gibt es die von den Vereinten Nationen geforderte »Inklusion«. Falls sie möchten, haben sie ein Recht darauf, gut aufgehoben zu sein. Falls sie das nicht möchten, haben sie die Möglichkeit, Sterbehilfe zu beanspruchen. Die wird in Deutschland bereits straffrei praktiziert; Euthanasie ist jetzt freiwillig. Der behinderte Nachwuchs kann sich früher oder später (in Holland ab 16 Jahren) zwischen den beiden Möglichkeiten »autonom« entscheiden.

Die radikale Liberalisierung schafft sich ihre künstlichen Probleme selbst und steht der künstlichen Lösung ihrer künstlichen Probleme natürlicherweise nicht im Wege. Sich unter diesen Bedingungen um das Kindeswohl zu sorgen, hieße, Geschwisterliebe zu diskriminieren, wie ja auch die Kritik am Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ohne Rücksicht auf die betroffenen Kinder unter »Homophobie« fällt: »Man munitioniert die Verteilungskämpfe rassistisch und kämpft zugleich gegen den Rassismus; ungefähr so, wie man die Emanzipationsfragen sexualisiert und gegen den Sexismus kämpft; ungefähr so, wie man die Patienten hospitalisiert und gegen den Hospitalismus kämpft, indem man die Patienten einfach umbringt.« (Wir sollen sterben wollen, S. 71)

Wem nützt das eigentlich? Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 6

Das Entsetzen von Melanie Mühl (»Dunkler und noch dunkler«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.1.2013, S. 27) über den Tod der taubblinden belgischen Zwillinge teile ich. Die Autorin verweist auf einen deutschen Patienten mit ererbter Taubblindheit, der seine Verzweiflung überwunden und den Lebenswillen wiedergefunden hat. Ja, man kann nicht oft genug betonen, dass der Todeswunsch nichts Festes und nichts Unveränderliches ist. Einem Menschen mit Todeswunsch »das Recht auf Sterben« einzuräumen, wie das in Belgien heißt, – das ist die bösartigste und brutalste Falle, die man einem Menschen überhaupt stellen kann. Als Toter kann er sich nicht einmal beschweren. Sterbehilfe ist ungefährlich – für die anderen.

Als ich 1983/84 in der Querschnittabteilung der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg meinen Zivildienst geleistet habe, konnte ich immer wieder die seelischen Prozesse von querschnittgelähmten Unfallopfern beobachten. Am Anfang wechseln sich Todeswunsch und Lebenswille bei dramatischen Ausschlägen in rascher Folge ab. Dann, im Laufe der Zeit, wird die Kurve flacher. Optimismus und Lebenswille stabilisieren sich gleichzeitig mit den Therapieerfolgen und mit der zunehmend wiedererlangten Selbständigkeit. Der Todeswunsch verliert sich früher oder später – fast immer. So war das offenbar auch bei dem deutschen Taubblinden, den Melanie Mühl anführt. Wäre dagegen der Todeswunsch ein verlässliches Kriterium für Suizidhilfe, müssten sich praktisch alle querschnittgelähmten Unfallopfer umbringen dürfen. Damit sie es möglichst nicht tun, sollte man ihnen dabei nicht helfen.

Genau das wird aber vielfach verlangt: Den Todeswunsch eins zu eins aufzugreifen und »zu helfen«. Was wollen uns die Leute eigentlich sagen, die in allen möglichen Foren plötzlich reihenweise behaupten, dieser oder jener Fall von Krankheit oder Behinderung sei absolut unzumutbar? Sie behaupten, sie wüssten das aus eigener Anschauung, obwohl sie für einen anderen sprechen, von dem man in der Regel nicht einmal erfährt, ob und wann und wie lange der sterben wollte.

Wollen diese Leute, die gleichermaßen öffentlich und demonstrativ mitleiden, vielleicht nur sich selbst die Zumutungen ersparen, die aus dem Kranksein erwachsen? Können sie das Leid ihrer Nächsten vielleicht einfach nicht mit ansehen? Das ist doch wohl zumindest nicht ausgeschlossen. Es wäre sogar verständlich, aber trotzdem wäre es falsch, ihrem Impuls nachzugeben. Zunächst hilft nur eins: Wir müssen anerkennen, dass Krankheit und Tod für Angehörige, Freunde, Pfleger, Ärzte u.s.w. unglaublich anstrengend sein können. Der Lebenswille, der auch ein leidvolles Leben schier endlos in die Länge ziehen mag, kann für die anderen unglaublich anstrengend sein. Selbst dann, wenn man gar nicht täglich damit konfrontiert wird.

Man führt einmal ins Heim, weil es angeblich ans Sterben geht. Fehlalarm. Ein paar Wochen später (zwischendurch fanden normale Besuche statt) fährt man noch einmal hin. Wieder Fehlalarm. Dann heißt es zum dritten Mal Abschied nehmen. Das kann über Monate oder Jahre so weitergehen. Man wird hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Trauer und weiß bald nicht mehr, was einem lieber ist. Erleichternd wäre die endgültige Klarheit in die eine oder andere Richtung. Krankheit und Tod können für alle unglaublich anstrengend sein, eine Zumutung, eine narzisstische Kränkung.

Pflege ist Schwerstarbeit. Ob bezahlt oder unbezahlt – sie verlangt ein Maximum an persönlicher Aufopferung für jemanden, dem es immer schlechter geht, und das womöglich jahrelang. Die durchschnittliche Pflegezeit beträgt in Deutschland acht (!) Jahre. Einen Todeswunsch stante pede* zu erfüllen, ist das Brutalste und Unmenschlichste, das einem dazu einfallen kann. Freilich erspart es dem Nächsten und der Gesellschaft ein hohes Maß an seelischen und finanziellen Aufwendungen. Ja, man spart wirklich sehr viel Geld – und noch mehr Liebe.

* »stante pede« (= sofort) gilt hier auch für die wochenlange »Prüfung« des Todeswunsches durch eine Sterbehilfeorganisation, denn Wochen sind gar nichts, wenn es um seelische Prozesse und seelische Heilung geht.

»Helfen 1« und »Helfen 2«. Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 3

Kein Gemeinwesen kann ohne den Satz überleben: »Es ist gut, dass es dich gibt.« Dazu gehörte bislang, dem anderen im Ernstfall auch gegen seinen Willen zum Weiterleben zu verhelfen. Sterben kann man immer noch. Deshalb die »Garantenpflicht« des Arztes, der einem Selbstmörder zwischen Leben und Tod helfen muss. Nun legen die Befürworter der Sterbehilfe besonderen Wert auf die ärztliche Suizidhilfe, obwohl gerade sie mit der Garantenpflicht nicht zu vereinbaren ist. Der Arzt kann nicht töten und Leben retten. Plötzlich soll er aber beides können.

Sofern der Arzt nicht skrupellos ist, wird ihn der Konflikt zwischen Helfen und Töten gewaltig belasten. Dauerhaft und jederzeit. Unterschiede, die man äußerlich abschafft, verschwinden nicht. Vielmehr kehren sie als innere Spannungen in die Individuen ein und leben dort weiter. Wir müssen nun alle Rollen selbst spielen. Vielleicht versucht der Arzt den Konflikt zwischen Helfen und Töten dadurch zu entschärfen, dass er in Anlehnung an die weltfremde Gender-Sprache (»Elter 1« und »Elter 2«) von »Helfen 1« und »Helfen 2« spricht.

Irgendjemand kommt bestimmt mit dieser Lösung um die Ecke. Die Belastung des Arztes wird dadurch aber nicht geringer. Der Arzt soll plötzlich wieder etwas können, das er in der Geschichte seines Berufes (außer im Dritten Reich) weder tun musste noch tun durfte. Der Arzt, der auch Euthanasie leistet, wird bald als besonders burnout-, depressions- und suizidgefährdet gelten. Er wird Hilfe brauchen. Aber welche?

Wollen sollen. Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 2

Wer immer noch nicht glaubt, dass aus dem Recht auf Sterbehilfe die Aufforderung erwächst, sich töten zu lassen, besuche das Jugendportal des Deutschen Bundestages (http://www.mitmischen.de/diskutieren/nachrichten/januar-13/suizidhilfe/index.jsp). Der scheinbar neutrale Text, der unter anderem vom »Recht auf einen würdigen Tod« handelt, wird dort mit dem Foto einer jungen Frau illustriert, die auf einer Autobahnbrücke steht. Ging es nicht eben noch um Todkranke? Ging es nicht eben noch um Suizidprävention?

Im großen Unterschied zum »Recht« auf Sterbehilfe kann das unspezifische Recht auf Selbstbestimmung vor allem eins: Ruhen. Sei es, weil die Arbeit ruft oder weil einen die Grippe ins Bett wirft. Das Recht auf Sterbehilfe kann nicht ruhen. Die Möglichkeit, sich töten zu lassen, geht von vornherein mit der Aufforderung einher, nicht »sinnlos« zu leiden. Das »Recht auf einen würdigen Tod« macht den »unwürdigen« Tod lächerlich unnötig. Um das Recht auf Sterbehilfe nicht in Anspruch zu nehmen, muss man leiden wollen. Wer will das schon? Und wer wird darauf bestehen, es zu dürfen?

Liberalität in Sachen Suizid ist keine. Wo man die Leute vom Selbstmord nicht mehr abhält, ist das Fehlen der Abhaltung von der Werbung für den Selbstmord nicht zu unterscheiden. Das Sterbehilfe-Angebot ist ein Giftbecher, der ausgetrunken werden soll. Dass wir ihn austrinken »wollen sollen«, hat mit vielem zu tun, aber nicht mit »Selbstbestimmung«. Präziser ist die Verwaltungssprache, die das »Wollen sollen« seit langem als »regulierte Selbstregulierung« kennt.

Arm und Reich. Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 1

Ist die Sterbehilfe nicht eine Verlegenheitsantwort auf die kommende Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen? Könnte sie uns nicht die ungerechte Zweiklassenmedizin ersparen, indem Patienten, für die das Geld fehlt, »freiwillig« sterben? In diesem Sinne heißt es auf Seite 54 meines Beitrags zu dem Buch über Sterbehilfe, das in Kürze bei Manuscriptum erscheint:

»Anstelle einer Zweiklassenmedizin, in der die einen besser behandelt werden als die anderen, entsteht unter den Bedingungen der Sterbehilfe eine Zweiklassenmedizin, in der sich die einen, die den neuen Lebensbedingungen seelisch und materiell gewachsen sind, privat oder im Ausland behandeln lassen, und die anderen, die es nicht sind, sterben.«

Und schon muss ich mich korrigieren. Das war insofern noch zu kurz gedacht, als die Neigung zum Selbstmord genauso wenig vor vermögenden Leuten halt macht (siehe Gunter Sachs, Robert Enke) wie die Verführbarkeit durch Sterbehilfe. Ein Freund erzählte mir von einem reichen Pariser Ehepaar, das sich gemeinsam in der Schweiz umbringen ließ ohne ernsthaft krank zu sein, zuvor aber die Familie zu einem nachhaltig verstörenden Abschiedstreffen einlud, erster Klasse nach Zürich flog, in einem standesgemäßen Hotel abstieg und ein feines Abendessen verzehrte. Am nächsten Tag war es dann soweit.

Nein, Sterbehilfe ist deshalb »die zarteste Versuchung seit es den Wohlfahrtsstaat gibt«, weil sie sich zu Klassen- und Vermögensschranken neutral verhält. Das macht sie sozialpolitisch unheimlich attraktiv: Der Staat, der sich einer Gerechtigkeit verschrieben hat, die es eigentlich nur im Himmel gibt, hätte eine Sorge weniger, wenn ihm der »Selbstmord für alle« dabei hülfe, auf die Einführung einer Zweiklassenmedizin verzichten zu können.